Das Haus der Sonnen
der Güte vorbei – dunkle Türme, die in beunruhigenden Winkeln aus dem Boden aufragten, vereinzelt oder in unregelmäßigen, kaktusartigen Häufungen. Dann flogen wir durch die Augenhöhlen eines berghohen Menschenschädels mit schneebedeckter Hirnschale. Nach weiteren zwanzig Minuten gelangte eine der großen Städte der einheimischen Zivilisation in Sicht. Die Sonne Neumes senkte sich allmählich gen Westen und warf tiefe, geschwungene Schatten über die Dünen. Die Stadt hob sich als dunkle Silhouette gegen den rotstreifigen Himmel ab.
»Das ist Ymir«, erklärte Betonie. »Nicht die größte Stadt auf Neume, aber die, welche für unsere Zwecke am besten geeignet ist – wir dürfen uns in weiten Teilen frei bewegen, also sollten wir uns besser nicht beklagen.«
»Sind dort die Überlebenden?«, fragte Akonit.
»Die meisten. Hin und wieder sind ein, zwei Splitterlinge unterwegs – sie halten im Sonnensystem nach eintreffenden Raumschiffen Ausschau, besuchen andere Städte oder kehren zeitweise in den Orbit zurück, um in Stasis zu gehen oder sich zu verjüngen – die meisten aber fühlen sich in Ymir ganz wohl. Hier gibt es alles, was wir brauchen, auch Abgeschiedenheit.«
»Wird der ganze Planet zentral verwaltet?«, fragte ich.
»Nein – es gibt mindestens drei Großmächte und etwa ein Dutzend Staaten der zweiten Riege. Sie sprechen auch verschiedene Sprachen. Aber deswegen brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Neume legt Wert darauf, uns gegenüber als Monokultur aufzutreten. Das liegt im beiderseitigen Interesse.«
»Also, mit wem haben wir es hier zu tun – und was ist mit der Hohen Güte passiert?«
»Das solltest du eigentlich wissen!«, flüsterte Portula mir zu.
»Das kann man Campion nachsehen«, sagte Betonie. »Die Hohe Güte verschwand vor zwei Millionen Jahren – sie ist jetzt so lange ausgestorben, wie sie existiert hat. Eine ernüchternde Vorstellung, wenn man bedenkt, dass ich mich noch gut an die Zeit erinnere, als sie eine aufstrebende Zivilisation war, die kaum hundert Sonnensysteme ihr Eigen nannte.«
»Welche Prioritäten du deinen Erinnerungen zuordnest, ist deine Sache«, sagte ich. »Ich ziehe es vor, Ereignisse der näheren Vergangenheit ganz oben einzuordnen.«
Betonie lächelte etwas gezwungen. »Und ich bin eher der Boden-Typ. Jeder nach seiner Fasson, mein lieber Junge. Jedenfalls, die Güte … sie ist einfach verschwunden . Angeblich geriet sie wegen der Kosten für eine Meerestransformation mit einer aquatischen Kultur in Streit, den Nereiden der Dritten Phase. Der Streit eskalierte, bis er viele Sonnensysteme umfasste. Eine weitere aufstrebende Zivilisation, die Plastikkultur, sah ihre Chance gekommen und übernahm einen großen Teil des Territoriums der Güte. Aber die Plastikkultur konnte sich nicht lange halten.«
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Akonit.
»Sie war zu unflexibel«, antwortete Betonie. »Als sie ausgestorben war, blieben uns von der Güte nur mehr die Ruinen.«
»Haben die Plastikleute die Weltraumfahrstühle und den Orbitalring gebaut?«, fragte ich.
»Nein, das war sehr viel später – vorher kamen noch sechs oder sieben andere Zivilisationen. Das waren die Versorger. Sie lebten hier mindestens vierhundertzwanzig Kilojahre lang, bevor es ihnen ans Leder ging.«
»Und die gegenwärtigen Bewohner?«, fragte Campion.
»Sie nennen sich die Zeugen. Sie begnügen sich damit, hier zu leben und je nach Gruppenzugehörigkeit den Geist zu verehren oder ihn zu erforschen. Sie haben ihre Städte und Siedlungen auf den Fundamenten der Hohen Güte erbaut – das ist viel einfacher, als Schächte in die Oberfläche zu treiben, und das Risiko, den Geist zu verstimmen, ist auch geringer.«
Wir waren Ymir inzwischen so nahe gekommen, dass wir erkennen konnten, was er meinte. Vier schwarze Finger ragten aus den Dünen empor, um fünfundvierzig Grad geneigte Obelisken der Güte. Der kürzeste Finger maß etwa vier oder fünf Kilometer, während der längste, einer der beiden mittleren Finger, mindestens acht Kilometer hoch war. Aus der Ferne, im Licht der untergehenden Sonne, sah es so aus, als wäre der Finger mit blauen Steinen und Edelmetall überkrustet. Doch die Juwelen, das war Ymir: Die Zeugen hatten ihre Stadt auf der Oberfläche der Finger errichtet. Die meisten Gebäude waren im Mittelteil konzentriert. Eine dichte Masse azurblauer Türme ragte aus dem geneigten Fundament der Güte-Ruinen hervor, verkleidet mit funkelndem Gold und
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