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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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offensichtlich schon wieder vergessen, dass sie erst vorhin an eure Kinder Mondkuchen verteilt hat. Ihr bedroht sie, und dennoch bittet sie um Gnade für euch.«
    Der Anführer der MPAJA ließ seinen Revolver sinken und gab dem Ziegenhirten einen kräftigen Tritt in den Hintern, um ihm Beine zu machen. Während er zusah, wie er davonstolperte, streckte er Lu See eine schwielige Hand entgegen und half ihr auf die Füße. Ihr wurde schwindelig, sodass sie sich an ihm festhalten musste, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
    »Diese Frau ist weder eine Verräterin noch eine Kollaborateurin. Sie ist vielmehr ein Glücksfall für dieses Dorf. Ich erwarte von euch, dass ihr sie auch so behandelt. Sai yun tau! Beim Kopf des toten Mannes!«
    Lu See klopfte sich den Dreck von ihrer Kleidung und sah dann in das Meer von Gesichtern, das sie umgab. Schweißnass und starr vor Schreck, spürte sie, dass sie etwas sagen musste.
    »Wir alle haben einen schrecklichen Krieg erlebt«, sagte sie. »Einige von uns haben mehr gelitten als andere, aber machen wir uns nichts vor – jeder hat durch die Japaner Leid erfahren.« Ihre Stimme klang ruhig und fest, innerlich aber zitterte sie wie Espenlaub. »Jeder von uns hat einen geliebten Menschen verloren oder etwas, woran sein Herz hing. Wir alle sind im selben Wasser geschwommen, auch wenn wir alle verschieden sind. Ein jeder von uns hat seinen persönlichen Sittenkodex. Der meine ist, alles zu tun, um meine Familie zu beschützen. Ich habe für Tozawa gearbeitet, das ist wahr. Ich habe für ihn gekocht. Aber ich hatte jeden einzelnen Tag das Gefühl, als würde ich ein Stück von meiner Seele opfern. Ich habe für meine Arbeit ein wenig Geld bekommen, aber ich habe mich ihm niemals hingegeben. Ich habe niemals irgendwelche Geheimnisse verraten. Ich habe ihm niemals irgendwelche Informationen über euch gegeben. Wenn ihr glaubt, das sei ein Verbrechen, dann sei es so, aber ich weiß, dass ich nichts Unrechtes getan habe. Ich kann meinen Kopf aufrecht tragen.«
    Lu See schwieg. Sie hätte die Menge am liebsten wütend angebrüllt, hätte den Menschen mit der Faust gedroht. Aber sie starrte sie einfach nur finster an. Die Frau aus der Holz handlung wich vor ihr zurück. Der betrunkene Fischer kratzte sich am Hals und trat den Rückzug in den Dorfladen an. Mr Ko, der Ladenbesitzer, starrte stumm auf seine Füße. Allmählich zerstreuten sich die Dorfbewohner, verlegen hüstelnd und schuldbewusst an ihrer Kleidung herumzupfend, in alle Richtungen.
    Mabel rannte auf Lu See zu und warf sich in ihre Arme. Die Wucht des Aufpralls brachte Lu See aus dem Gleichgewicht.
    Sie vergrub ihr Gesicht im Haar ihrer Tochter. Dann sah sie den hochgewachsenen Mann an und dankte ihm.
    »Mein Name ist Foo. Meine Freunde nennen mich aber alle Fishlips. Und das hier«, er fuhr einem Jungen, der neben ihm stand, liebevoll mit der Hand durch das widerspenstige Haar, »das ist mein Enkel Bong. Seine Eltern wurden von den Kempeitai abgeholt. Sie kamen nicht mehr zurück.«
    Lu See lächelte den Jungen mit der japanischen Armeepistole im Gürtel an. Ein Junge mit den Augen eines alten Mannes und dem Gesicht eines Zehnjährigen. »Hallo Bong. Das ist meine Tochter Mabel.«
    »Hallo«, erwiderte er und musterte Mabel dann von oben bis unten. »Hast du schon einmal eine Waffe in der Hand gehabt?«
    »Komm jetzt, Enkel, das war genug Aufregung für einen Tag. Es ist Zeit, dass wir unser Lager aufschlagen.« Foo drehte sich um und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, davon.
    Doch bevor er im dichten Blätterwerk des Dschungels verschwand, warf er noch einmal einen Blick über die Schulter und lächelte Lu See an, als wolle er sagen: Du schuldest mir etwas.
    Dann war er verschwunden.
    Erst später, nachdem alle wieder in dem großen Haus waren und Lu See begriff, was da gerade geschehen war, ging sie nach hinten in den Garten und erbrach einen rosafarbenen Schwall halb verdauten Mondkuchens. Mit einem heftigen Kopfschütteln lehnte sie sich dann erschöpft an die Wand. Ihr wurde schmerzhaft bewusst, dass ihre Mutter die ganze Zeit über recht gehabt hatte.

8
    An diesem Abend fand Lu See ihre Mutter auf dem Boden im Billardzimmer. Sie lag flach auf dem Rücken und hatte einen Arm über ihren Kopf gelegt. Sie schien nicht mehr zu atmen.
    »Mutter! Bist du gestürzt? Mutter!«
    Ihre Mutter rührte sich. Auf ihrem geschlossenen linken Auge lag eine halbe Walnussschale, und in ihrem Ohr steckte eine plump gerollte

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