Das Haus der tausend Blueten
ihn an. Sie schienen sich nicht sicher zu sein, was sie tun sollten.
Eine Minute später erschien Stan Farrells Ford Anglia mit Blaulicht und Sirene.
Abdul bin Kassim klopfte sich den Staub von der Kleidung und zog sich in sein Haus zurück. In diesem Moment sah Lu See, wie Pietro versuchte, sich durch die Menge einen Weg zu ihr zu bahnen. »Lasst mich durch, ihr schwieligen Scheusale«, schrie er.
Die Demonstranten begannen sich zu zerstreuen. Schweigend und beinahe lautlos gingen sie jeder für sich davon.
Lu See, die Stan auf keinen Fall gegenübertreten wollte, nahm Pietro am Arm und zog ihn ins Restaurant. Sobald sie sich gesetzt hatte, drückte ihr Dungeonboy eine Tasse teh tarik in die Hände.
Onkel Hängebacke machte ein paar Schritte rückwärts und ließ sich dann wie ein Sack Kartoffeln auf einen stabilen Holzschemel plumpsen. »Du hast großes Glück gehabt, aahh. Ein Mob wie dieser kann total durchdrehen, lah . Dann gibt es kein Halten mehr!«
»Vor zehn Jahren wäre ich noch mit dir hinausgegangen«, sagte Fishlips. »Hum gaa chaan!«
Auch Lu Sees Mutter veranstaltete ein großes Theater. » Chee! Seit wann kommandierst du erwachsene Männer herum, hnn ? Von wem hast du das nur?«
»Das frage ich mich auch«, erwiderte Lu See und legte ihrer Mutter beruhigend die Hand auf den Arm. Dann wandte sie sich Pietro zu. »Du bist vorhin sehr hastig aufgebrochen.«
»Ja. Ich habe einen Brief erhalten. Einen ziemlich beunruhigenden Brief, genau genommen.«
»Das ist mir nicht entgangen. Von wem ist der Brief?«
»Die Äbtissin von Sum Sums Nonnenkloster hat mir geschrieben.«
Lu See richtete sich kerzengerade auf, so als hätte man ihr mit einem elektrischen Viehtreiber einen Schlag versetzt. »Die Äbtissin? Von Sum Sums Kloster? Ich verstehe nicht … Wie? Warum hat sie dir geschrieben? O mein Gott! Ist Sum Sum etwas zugestoßen?«
»Nein. Es geht ihr gut.« Pietro war jetzt sichtlich verlegen. »Sum Sum schreibt mir schon seit einiger Zeit. Das schlaue Mädchen hat mit meinem College in Cambridge Kontakt aufgenommen. Sie hat das Sekretariat gebeten, ihre Post an mich weiterzuleiten.«
Lu See spürte einen Stich der Eifersucht. »Was schreibt sie denn?«
Er sah sie mit ruhigem Blick an. »Bis vor Kurzem gab es nichts Besonderes zu berichten. Kleinigkeiten, zum Beispiel, dass sie den Kommunisten am liebsten eine Bratpfanne um die Ohren hauen würde, solche Dinge eben. Die letzten beiden Briefe jedoch waren überaus beunruhigend. Es waren Hilferufe. Ich glaube, sie hatte Bedenken wegen der chinesischen Zensur, also hat sie das Ganze sehr rätselhaft und abenteuerlich formuliert. Es war ein bisschen so, als müsste ich Rapunzels verhedderten Zopf entwirren, aber schließlich ist es mir doch gelungen, die einzelnen Stücke zusammenzusetzen: Sie wird, so wie es der Dalai Lama getan hat, nach Indien gehen.«
»Was? Allein? Über den Himalaja?«
»Dem Brief der Äbtissin zufolge, ja. Sie will nach Dharamsala.«
Lu See spürte eine leise Panik in ihrem Inneren aufsteigen. »Ich habe im LIFE Magazine gelesen, dass der Dalai Lama mit Pferden und … und mit vielen Sherpas unterwegs war. Allein zu gehen, das ist doch reiner Selbstmord!«
»Was ist los?«, fragte Mabel, die sich gerade für ihre Nachtschicht im Krankenhaus fertig gemacht hatte und auf den Weg nach unten an der Zimmertür ihrer Mutter vorbeigegangen war.
»Nichts«, erwiderte Lu See, während sie Wollsocken und ihre dicke Winterkleidung, die sie schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte, in ihren fischledernen Koffer warf.
Mabel betrat Lu Sees Schlafzimmer, schob ein paar Kissen beiseite und setzte sich an das Fußende des Bettes. »Es ist irgendetwas Schreckliches, nicht wahr? Du gehst fort, um zu sterben. Du hast vor, dein Leben an einem abgeschiedenen Ort, einer Einöde oder in einer Höhle zu beschließen. Genauso wie es die alten Elefanten machen, wenn sie glauben, dass sie bald sterben werden. Sie gehen zu einem Elefantenfriedhof oder suchen irgendeine dunkle Höhle in der Wildnis auf.«
Lu See faltete sorgfältig einen Schal zusammen und legte ihn dann auf eine wollene Jacke.
»Das ist es, nicht wahr?«
»Nein«, sagte Lu See. »Ich mache mich nicht auf die Suche nach irgendeiner Höhle in der Wildnis.«
»Was ist es dann? Sag es mir! Du hast eine schlimme Nachricht erhalten. Ich sehe doch, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
»Nun, ich würde es nicht unbedingt eine schlimme Nachricht nennen. Im Gegenteil, sie war sogar
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