Das Haus der tausend Blueten
sperrt um zehn Uhr die Tür zu.«
»Also habt ihr noch genügend Zeit. Es ist noch nicht einmal halb neun.«
Adrian holte ein zusammengerolltes, langes Tau und drei kurze Gurte aus seinem Rucksack. Die Gurte hatten an jedem Ende eine Schlinge, was ihnen das Aussehen von ledernen Handschellen verlieh.
»Wozu in aller Welt sind die denn gut?«, fragte Lu See und streckte die Hand aus, um einen der Gurte zu berühren.
»Im Winter sind die Regenrohre so kalt, dass man sich nicht sehr lange an ihnen festhalten kann. Immer, wenn du eine Pause brauchst, kannst du den Gurt hinter dem Rohr hindurchführen, die Enden um deine Handgelenke schlingen und dich dann einfach zurücklehnen.« Er drückte Sum Sum und Lu See jeweils einen Gurt in die Hand. »Das ist wesentlich weniger anstrengend, als sich mit den Fingern an den Mauerklemmen festzuhalten. Also: Zieht eure Mäntel und Schals aus und packt sie in den Rucksack. Ihr solltet euch nicht mit allzu schwerer Kleidung belasten. Ihr müsst auch die Handschuhe ausziehen, sonst findet ihr die Vertiefungen im Mauerwerk nicht.« Er wickelte die lange Taurolle um seinen linken Arm. »Ich werde vorausklettern. Wenn ich dieses Seil an einem der Kamine befestigt habe, werfe ich es vom Dach. Denkt dran, mit den Fingern immer hinter die Fallrohre zu fassen und die Knie anzuziehen. Zum Klettern nehmt ihr eure Fußspitzen, eure Absätze nehmt ihr, wenn ihr einen sicheren Stand gefunden habt.«
»Großer Gott, ich glaube einfach nicht, was hier geschieht!«
»Fangen wir an?«, fragte Sum Sum.
»Versucht einfach, denselben Weg zu nehmen, den auch ich nehme. Wenn ihr den Halt verliert, dann haltet euch am Sicherungsseil fest.« Er drückte Lu See einen ermutigenden Kuss auf die Stirn. »Keine Sorge, du wirst das schon hinkriegen. Wir sehen uns dann oben auf dem Dach.«
»Ich will das nicht machen.«
»Denk an das, was ich dir über das Überwinden deiner Ängste gesagt habe. Du wirst vor Begeisterung überschäumen, wenn du es erst einmal geschafft hast.«
Adrian kletterte behände am Fallrohr hinauf, nutzte die Nischen und kleinen Vertiefungen, wo immer er konnte. Dann, nach etwa fünf Minuten, ließ er das Seil herunter. Sum Sum begann sogleich mit dem Aufstieg.
Lu See blickte nach oben und bekreuzigte sich. Immer eine Hand über der anderen, sagte sie sich. Sie ergriff das metallene Fallrohr und spürte sofort den Zug in ihren Armen und ihrem Rücken. Nachdem sie sich versichert hatte, dass ihre Finger festen Halt fanden, drückte sie ihre Knie durch und kletterte ein paar Zentimeter nach oben, dann schob sie ihre linke Hand über ihre rechte, bis ihre Schuhe einen Spalt fanden, in dem sie sich verkeilen konnten. Jedes Mal, wenn sie das tat, verlagerte sie ihr Gewicht von einer Hand auf die andere, kroch nach oben wie eine Krabbe, zwängte ihre Füße dabei immer wieder in die feuchten Ritzen des geriffelten Mauerwerks.
Sie bewegte sich langsam und vorsichtig. Das lange Sicherungsseil baumelte dabei die ganze Zeit neben ihr.
Ignoriere das Seil , sagte sie sich. Sieh es nur als letzten Ausweg an. Wenn du ständig dieses Seil anstarrst, kommst du aus dem Gleichgewicht. Benutze es nur, wenn du abrutschst. Ihre Finger und Unterarme begannen zu brennen. Eins, zwei, drei … hoch! Sie kletterte weiter. Dann aber gab das Fallrohr plötzlich ein seltsam klagendes Geräusch von sich, so als würde das Metall anfangen, sich zu verformen.
Gütiger Gott, was ist, wenn eine der Halterungen bricht?
Ihr Herz begann zu hämmern, aber sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Obwohl sich die Luft um sie herum ohne Mantel empfindlich kalt anfühlte, geriet Lu See ins Schwitzen. Sie spürte, wie unter ihrem Pullover die Schweißperlen auf ihrer Haut zu kitzeln begannen.
Schließlich erreichte sie einen kleinen Sims und legte eine Pause ein. Heftig schnaufend sog sie die Luft in tiefen Zügen in ihre Lungen. Während sie sich mit einer Hand am Fallrohr und mit der anderen am moosbewachsenen Mauerwerk festklammerte, presste sie sich so nah wie möglich an die Fassade.
Ich kann das, sagte sie sich. Tatsächlich macht es sogar Spaß. Ich muss mir nur Zeit lassen.
Etwas von dem grünen Moos löste sich unter ihren Fingerspitzen, als sie ihr Gesicht an eine Armierung aus Eisen presste und noch immer um Luft rang. Sie ließ ihren Blick schweifen.
Verdammt! Ist das hoch!
Plötzlich spürte sie, wie etwas gegen ihre Hand schlug. Lu See schrie erschrocken auf.
FLAPP ! FLAPP ! FLAPP !
Dreißig Zentimeter
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