Das Haus der tausend Blueten
sofort überfiel sie wieder Panik. Am Ende der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße stand, im Schatten verborgen, eine dunkle Gestalt. Vor Schreck machte sie einen Satz hinter die Vorhänge. Als sie vorsichtig wieder aus dem Fenster sah, war der Mann verschwunden.
Auf dem Rückweg vom Postamt ging Lu See die belebte Regent Street entlang. Kindermädchen schoben Kinderwägen auf und ab, Straßenhändler boten den Gentlemen Pfeifentabak und Shag an, Zugpferde ließen ihre Pferde äpfel fallen, und Scherenschleifer schärften die Messer ihrer Kunden mithilfe eines Rades und lederner Streichriemen.
Als sie die Park Parade erreichte und an einem rußverschmierten Schornsteinfeger vorbeiging, der mit seinen Bürsten über der Schulter eine Leiter hinaufkletterte, begegnete sie Mrs Slackford. Ihre Hauswirtin war gerade auf dem Weg zum Markt. »Da is ein unheimlicher Mann bei Ihnen zu Besuch.«
»Ein unheimlicher Mann?«
»Ich war gerade dabei, aus dem Haus zu gehen, und hab ihn deshalb reingelassen. Normalerweise erlaub ich ja keinen Herrenbesuch. Mann o Mann, wenn der nich groß wie ein Bus is. Dick wie Fatty Arbuckle. Er is ganz schwarz gekleidet und sieht irgendwie ausländisch aus.«
Schwarz gekleidet? Ein Schwarzhemd?
Lu See marschierte entschlossen auf die Haustür mit der Nummer 23 zu. Eine brennende Röte hatte sich auf ihren Wangen ausgebreitet. Als sie im Hausflur stand, zögerte sie jedoch. Der Geruch von Zigarettenrauch zog aus dem Wohnzimmer zu ihr herüber. Ein Stuhlbein scharrte über den Boden.
Sie zuckte zusammen.
Vor dem Fenster zeichnete sich die dunkle Silhouette eines großen und massigen Mannes ab, der, den Hut in der Hand, in einem der Wildledersessel saß. Der Koloss bewegte sich, als er ihre Schritte hörte.
In der Annahme, dass sich ein Schwarzhemd Zutritt zum Haus verschafft hätte, riss Lu See einen Regenschirm aus dem Schirmständer und hielt ihn drohend vor sich. »Wagen Sie es ja nicht, näher zu kommen!«, warnte sie.
»Du bist aber ganz schön unhöflich, Mädchen«, kam die tiefe, kehlige Antwort. »Da bin ich den ganzen Tag unterwegs, um dich zu besuchen, lah, und dann werde ich so begrüßt? Und außerdem gibt es in diesem Haus nichts zu lesen außer dieser alten Ausgabe von Modern Screen , ahhh!«
Die Stimme war unverkennbar.
Der dicke buddhaähnliche Körper erhob sich schwerfällig aus dem Sessel und drehte sich um, sodass das Licht des Vormittags auf sein Gesicht fiel. Sein ergrauendes Haar war geölt und nach links gescheitelt. Seine Augenbrauen waren beeindruckend buschig. Im Profil erinnerte er an einen riesigen Panda, dem man eine Rettungsweste angezogen hatte.
»Onkel Hängebacke!«, rief Lu See. Sie rannte quer durch das Zimmer auf den Mann mit dem ungeheuren Bauch zu und warf sich in seine ausgebreiteten Arme. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich mich so freuen würde, dich zu sehen!«
Die runden Schultern vorgebeugt, eine Zigarette in der Hand, stand der alte Onkel da und strahlte vor Freude. »Na siehst du, lah, das ist schon eher die Begrüßung, die ich erwartet habe.«
Lu See wischte sich mit den Fingerknöcheln eine Träne von der Wange. »Wie geht es dir, Onkel?«, fragte sie, als sie ihn endlich wieder losließ.
»Mir geht es hervorragend, lah ! Aiyoo, meine kleine Nichte weint ja, lah ! So sehr freust du dich also, mich zu sehen, ja?«
Er lachte in sich hinein, während er mit der flachen Hand die Vorderseite seiner Hosenbeine abbürstete. »Ich weiß noch ganz genau, dass du damals, als du noch ein kleines Mädchen warst und ich dich zum Schwimmen mitgenommen habe, auch immer so rote Augen bekommen hast. Erinnerst du dich auch noch daran? Ich war es, der dir beigebracht hat, im Fluss zu schwimmen. Ich habe immer auf dich aufgepasst, wie ein Bademeister.«
Er trug einen dunkelblauen dreiteiligen Anzug mit einer farblich passenden gestreiften Krawatte. Lu See vermutete, dass sein Schneider in Penang diese Garderobe extra für die Reise angefertigt hatte.
Sie betrachtete sein Gesicht und stellte fest, dass er um die Augen herum ein wenig gealtert war. »Wie lange bist du schon in England?«
Er lockerte seine Krawatte, legte seinen Hut auf den Couchtisch und ließ sich dann wieder in den Sessel fallen. »Nachdem deine Mutter erfahren hat, dass du dich auf den Weg nach Cambridge gemacht hast, habe ich das nächste Schiff genommen. Ich bin am Dienstag nach deiner Ankunft in London eingetroffen. Überall Demonstrationen, nichts als Demonstrationen. In
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