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Das Haus der tausend Blueten

Das Haus der tausend Blueten

Titel: Das Haus der tausend Blueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Lees
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Freunde. Ah-Ba bezeichnet dich als das schwarze Schaf der Familie und sagt, dass er dich aus dem Haus hätte werfen sollen, als es ihm noch möglich war, anstatt zuzulassen, dass du unsere Familie solchen Demütigungen aussetzt. Natürlich schmerzen seine Worte, aber Tatsache ist, dass sich keiner von uns mit dem, was du uns angetan hast, abfinden kann – du hast dich wie ein Dieb in der Nacht aus dem Haus gestohlen … das ist die schlimmste Art der Zurückweisung. Und dann auch noch mit einem Woo! Pfui, pfui! Schande über dich!
    Die bösen Zeilen ihrer Mutter ärgerten Lu See sehr. Sie ging zum Kamin, den Mrs Slackford ungeachtet der inzwischen wärmeren Jahreszeit noch immer jeden Morgen anheizte, weil das, wie sie sagte, ihren alten Knochen guttäte, und warf den Brief in die Flammen. Dann sah sie mit trotzigem Gesicht dabei zu, wie das Papier verbrannte.
    Die nächste Stunde verbrachte sie damit, eine Antwort zu verfassen, die sie auf ihrer neuen Smith-&-Corona-Schreibmaschine tippte. Sie hatte beschlossen, ihren Brief höflich zu formulieren: Sie entschuldigte sich dafür, dass sie ihre Familie bloßgestellt habe, schrieb, dass sie jetzt glücklich sei und sich gut eingelebt habe, und betonte auch, dass ihr Bewerbungsgespräch am Girton College erfolgreich verlaufen sei. Die Absprache mit Zweiter Tante Doris und die Suche nach einer neuen Orgel erwähnte sie jedoch mit keinem Wort. Sie setzte schwungvoll ihre Unterschrift unter den Brief und drückte dann ein Löschblatt auf die Tinte.
    Als sie die Vorhänge zurückzog und sah, dass heute ein herrlicher, strahlender Frühlingsmorgen war, beschloss sie, zu Fuß zum Postamt zu gehen, um dort Briefmarken zu kaufen. Inzwischen war sie wegen ihrer vielen Briefe an Zweite Tante Doris und an Conrad P. Hughes in London eine gute Kundin der Royal Mail. Sie kaufte oft bei Fitzbillies Kuchen ein, und in der Buchhandlung Heffers gehörte sie fast schon zum lebenden Inventar.
    Sie zog ihren Mantel an und machte sich dann die gewundene, mit Kopfsteinen gepflasterte Straße entlang auf den Weg zur Post. Sie war noch nicht weit gekommen, als sie Adrian begegnete, der gerade zur Bibliothek lief.
    »Morgen, Goosey.«
    »Komisch, dass ich dich hier treffe.« Sie starrte seine struppige Frisur an. »Sag mir jetzt bloß nicht, dass du wieder die Finger in eine Steckdose gesteckt hast.«
    »Meine Haare sehen prima aus.« Er strich sich mit der Hand über seinen störrischen Schopf.
    Lu See konnte immer genau sagen, ob Adrian in der Nacht zuvor klettern gewesen war, denn das verriet ihr stets der Zustand seiner Haare. Vom Wind zerzaust und vom Regen durchnässt stand es in alle Richtungen ab, und da er sich selbst als Rebell ansah, weigerte er sich beharrlich, es mit Pomade zu bändigen, so wie das alle anderen taten. Einmal hatte er sogar behauptet, diese Frisur würde ihm ein »marxistisches Aussehen« verleihen. Heute jedoch ähnelte er jemandem, der gerade durch einen Minenschacht gefallen war.
    »Wo gehst du hin?«
    »Ich will einen Brief an meine Mutter aufgeben.«
    »Sehen wir uns zum Mittagessen?«
    »Um eins im Pickerel?«
    »Dann bestelle ich schon mal den Bauernteller mit Stilton für dich.«
    »Untersteh dich! Also bis später.«
    Jetzt, da Lu See aus dem Haus war, saß Sum Sum auf der Kante ihres Bettes und starrte ihre Hände an. Lass die Angst los. Atme. Fühle deinen Bauch. Bringe die Chakren ins Gleichgewicht. Sie legte den Mittelfinger ihrer rechten Hand zwischen ihre Augen. Dann verschloss sie mit dem Daumen ihr rechtes Nasenloch und sog die Luft langsam durch das linke ein. Sie machte ein paar Atemzüge, dann verschloss sie mit ihrem Ringfinger das linke Nasenloch und atmete durch das rechte weiter.
    Ich muss es Lu See sagen. Die Beklemmung in ihrem Inneren wuchs. Die Yoga-Atmung funktionierte nicht. Ihre Angst drohte sie zu verschlingen.
    Was mache ich nur? Was soll ich sagen? Ich habe alle im Stich gelassen, oder? Aber ich habe es getan, um Lu See zu helfen. Um sie zu beschützen.
    Sum Sum spürte eine heftige, kribbelnde Hitze in ihrer Brust. Brennend wie ein Geheimnis.
    Ein Geheimnis, das ihr das Gefühl gab, schwach und zerbrechlich zu sein. Ein Geheimnis, von dem sie wusste, dass sie es Lu See bald würde mitteilen müssen. Und je mehr sie darüber nachdachte, desto größer wurde der Wunsch, nach Tibet zurückzukehren.
    Sie rümpfte die Nase. Bildete sie sich das nur ein, oder lag da der Gestank von Kampfer in der Luft? Sie spähte aus dem Fenster, und

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