Das Haus der tausend Blueten
In den vielen Monaten, die sie jetzt für den Oberst arbeitete, hatte er, abgesehen von seinen vielsagenden Blicken, ihr gegenüber keinen Annäherungsversuch unternommen, und dafür war sie ihm mehr als nur dankbar. Jetzt aber spürte sie, dass eine Veränderung in ihm vorging. Angst stieg in ihr auf. Sie versuchte das Thema zu wechseln.
»W-Wie hat Ihnen heute Abend das Essen geschmeckt, o-Oberst-sama ?«
»Hervorragend wie immer.« Er stellte den Kristallbecher vorsichtig ab. »Dann sind Sie also achtundzwanzig und haben eine achtjährige Tochter.«
Schweigen.
»Sie bemühen sich sehr, sie zu beschützen, seit die Neue Ordnung die Kontrolle über Malaysia übernommen hat.«
Lu See schluckte. »Ich tue das, was jede Mutter tun würde.«
»Der Wille einer Mutter ist hart wie Eisen, wenn ihr Kind in Gefahr ist, nicht wahr?« Seine Lippen zuckten. Es war ein merkwürdiges, unergründliches Lächeln.
Panik flammte in ihr auf und breitete sich dann in ihrem Inneren wie Funken im trockenen Gras aus.
»Sie würde jedes Opfer bringen, oder etwa nicht?«
Lu See vermochte seinem Blick nicht länger standzuhalten. Sie starrte stumm zu Boden. Draußen fiel Regen und erzeugte ein schwüles Flüstern, das bis zu ihnen ins Haus drang. Lu See stellte sich vor, wie Tozawas stoppeliger Schnurrbart über ihre Haut strich, und erschauderte.
»Habe ich Sie etwa beunruhigt, Teoh-san?«
Noch immer schwieg sie.
»Das lag nicht in meiner Absicht. Verzeihen Sie mir. Ich stelle Ihnen diese Fragen, weil Sie eine sehr schöne Frau sind. Und in Zeiten wie diesen können schöne Frauen wie sie sehr schnell in Gefahr geraten. Frauen wie Sie brauchen Schutz, verstehen Sie?« Sein Schnurrbart zuckte, als er lächelte. »Ansonsten verschwinden sie möglicherweise einfach spurlos. Und ich möchte nicht, dass Sie verschwinden.«
Lu See vollführte mit ihren Händen eine kleine flehende Geste. »Ihr Special Protection Paper hat mir schon bei zahllosen Gelegenheiten gute Dienste erwiesen, o-Oberst-sama.«
»Das bezweifele ich nicht. Aber ich fürchte, ich persönlich habe noch nicht genug getan, um für Ihre Sicherheit zu sorgen. Sie arbeiten für mich. Also bin ich für Sie verantwortlich. Sagen Sie mir, wie kommen Sie, wenn Sie hier mit der Arbeit fertig sind, zu ihrer Familie nach Hause?«
»Ich gehe zu Fuß den Hügel hinunter.«
»Es dauert also einige Zeit, bis Sie das Dorf erreicht haben.«
Unwillkürlich warf Lu See einen Blick auf ihre Armbanduhr – Adrians alte Armbanduhr. Sie funktionierte schon seit Jahren nicht mehr, aber sie trug sie aus Gewohnheit weiter, wollte sie einfach nur auf ihrer Haut spüren.
»Und die Straße ist nicht beleuchtet«, fuhr er fort. »Haben Sie denn keine Angst vor Banditen?«
Lu See wollte entgegnen, dass sie vor den japanischen Patrouillen und vor dem Wachposten, der sie jeden Abend nach herausgeschmuggeltem Essen durchsuchte, wesentlich mehr Angst hatte, entschied sich aber um: »Ich bin daran gewöhnt, o-Oberst-sama .«
»Und was ist, wenn es regnet, so wie heute Abend?« Tozawa strich sich mit dem Daumenknöchel über seinen Schnurrbart. Er machte eine kleine Bewegung mit seinem Kopf. »Sie werden nicht mehr zu Fuß den Hügel hinuntergehen. Von jetzt an werde ich einem meiner Männer sagen, dass er Sie nach Hause fahren soll. Er soll den Spähwagen nehmen.«
Lu See blinzelte ein paar Mal verwundert, bevor sie sich, die Hände flach auf ihre Oberschenkel gelegt, tief verbeugte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, o-Oberst-sama , aber ich kann dieses Angebot wirklich nicht annehmen.«
»Sie müssen es annehmen. Ich werde die Wachposten über diese Neuerung informieren. Und jetzt räumen Sie den Tisch ab und bringen mir etwas von der Süßspeise, die Sie mir versprochen haben. Ich bin schon den ganzen Tag gespannt darauf, Ihren Kuchen zu probieren.«
2
Drei Tage später, an einem Dienstagabend, holte Lu See die in Pfannkuchenteig gebackenen Würstchen aus dem Ofen und richtete sie auf einer Platte an. In der Küche war es heiß. Der warme Wind, der durch das geöffnete, mit einem Moskitonetz geschützte Fenster kam, brachte auch keinerlei Abkühlung. Man hatte ihr gesagt, dass sie heute für zwei Personen decken solle. Oberst Tozawa hatte einen Gast zum Abendessen.
»Weißt du, wer dieser Gast ist?«, fragte sie einen jungen Diener.
Er zuckte mit den Schultern.
Sie stellte die blauweißen Porzellanteller zusammen mit einer großen Schüssel gekochter Erbsen auf ein Tablett und sagte
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