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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Wahrheiten und Lügen, Tatsachen, Fantasien und grobe Verleumdungen wurden unentwirrbar mit politischen Schlagwörtern vermischt. Sie erzählten zum Beispiel,
dass die Lamas für gewisse Zeremonien Schädelschalen benutzten, was ja der Wahrheit entsprach. Es handelte sich dabei um die Schädelschalen hoher Lamas, die zu ihren Lebzeiten besondere Verehrung genossen hatten. Weil der Schädel als Sitz des menschlichen Geistes etwas Heiliges ist, wurden diese Hirnschalen als Reliquien aufbewahrt und bei Kulthandlungen eingesetzt. Manche waren mehrere hundert Jahre alt. Aber die Jungkommunisten sagten, sie wüssten es besser: Die Lamas brächten Menschenopfer dar. Insbesondere töteten sie Kinder, die von ihren Eltern ausgesetzt wurden. Und es nützte nichts, wenn wir ihnen sagten, es gäbe keine tibetischen Eltern, die ihre Kinder auf die Straße warfen. Waren da nicht die Bilder in den Heiligtümern, diese furchterregenden Fratzen mit Menschen in den Fangzähnen? Wir kannten natürlich diese Bilder, die symbolisch das Böse darstellten, das wir im Leben zu bekämpfen hatten. Aber die Jungkommunisten wussten es besser: ›Ihr armen, verblendeten Kinder! Habt ihr denn nie gemerkt, dass sie die Wirklichkeit zeigen?‹ Ihre Geschichten waren voll von drogensüchtigen Rebellen, von perversen Großgrundbesitzern, von fliehenden Aristokraten, die Goldbarren in ihren Körpern versteckten. Die Wurzel allen Übels, hieß es, sei der Dalai-Lama, ein vergnügungssüchtiger Mönch, ein ›Wolf im Schafspelz‹, der Gold und Silber hortete und Tibet den Imperialisten ausliefern wollte. Oh ja, wir hätten große Plagen zu bekämpfen! Aber nichts Grundlegendes würde sich ändern, bevor nicht die Götzen entlarvt, die Klöster dem Erdboden gleichgemacht wären und alle Mönche und Nonnen, vom Aberglauben befreit, sich der Revolution anschlössen. Die Jungkommunisten fragten uns: ›Wie könnt ihr Angst vor so viel Gutem haben? Gewiss, ihr arbeitet hart, aber ihr arbeitet für das Volk! Ist nicht das Sich-Opfern eine herrliche Tugend?‹ Immer wieder ermutigten sie uns, Zweifler, Aufwiegler und Saboteure zu denunzieren. ›Wir brauchen Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit! Verlogenheit muss abgeschafft
werden. Aber wir werden nur strafen, wo die Schuld erwiesen ist.‹
    Nach jeder Versammlung mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und laut verkünden: ›Sieg der chinesischen kommunistischen Partei! Sieg dem Volk! Möge der Große Steuermann zehntausend Jahre leben!‹
    Wer das mit genügend Überzeugung plärrte, wurde belohnt. Ich für meinen Teil bekam eine wattierte Jacke und Schuhe, die einem Arbeiter gehört hatten, der gestorben war. Die Schuhe waren viel zu groß für mich, ich stopfte sie mit Lumpen aus, aber ich würde ja wachsen. Mir war damals nicht klar, dass meine Seele offensichtlich vorderhand keinen Widerstand aufbringen konnte, denn die war noch viel schwächer als der Körper. Und dass die Seele schwächer und schwächer wurde, bevor der Körper noch etwas dazu beitragen konnte, der Seele zu helfen. Wir würden das heute Depression nennen. Die Summe meiner Energie war auf ein Ziel gerichtet: auf Vorteile. Und jede Speichelleckerei war mir recht. Nicht immer sucht der Mensch einen Ausweg aus großer Demütigung; im Grunde genommen gelingt dies nur den Selbstsicheren. Rebellion ist der Triumph des Stolzes.
    Ich entsinne mich, wie Sonam bei den Versammlungen in einer Ecke kauerte, ich sehe noch ihr Gesicht, wie eine vertrocknete Frucht zusammengeschrumpft, die Augen blitzend, der Mund verächtlich gekrümmt. Sie kannte kein Selbstmitleid, sie trug diese Kampfansage in sich, die sie anders machte. Wurde sie aufgefordert zu sprechen, stammelte und knurrte sie ein paar wütende, recht einfältige Worte, was meistens dazu führte, dass sie ausgelacht wurde. Ich glaube, dass man sie für geistig leicht zurückgeblieben hielt. Und alles, was man ihr einpaukte, glitt von ihr ab wie Wasser auf dem Gefieder einer Ente.
    Sonam war klein für ihr Alter, aber stämmig, und ihre Muskeln waren gut ausgebildet. Sie arbeitete gewissenhaft, aber
immer ein wenig für sich, als wollte sie sagen: ›Ich gehöre nicht dazu!‹
    In ihrer karg bemessenen Freizeit saß Lhamo bei den anderen Frauen, flickte Kleider, nähte und strickte. Sie schwieg zumeist, tat, was man ihr befahl, und ließ in keiner Weise durchblicken, was sie empfand. Sie zeigte viel Passivität und machte sich auf besondere Art unentbehrlich, indem sie für die chinesischen

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