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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Blut tropfte aus ihren Mund. Der Soldat schob mich dicht an sie heran, krümmte ziemlich schmerzhaft meinen Zeigefinger, sodass er auf dem Abzug lag, schloss seine Hand um meine und drückte fest zu. Der Schuss knallte, meine Ohren wurden taub. Ich spürte den Kolben, der hart an mein Brustbein schlug, und taumelte zurück. Dann verhallte der Lärm, und ich starrte auf Tante Ling, und ich konnte sehen, dass sie kein Gesicht mehr hatte. Der Wahnsinn, die Ohnmacht, das Entsetzen in mir waren so stark, dass ich nichts mehr fühlte, mich selbst auch nicht mehr, nichts. Tante Lings Hand tastete dahin und dorthin, bevor ein Schauder sie schüttelte und sie still lag. Da begannen alle Soldaten zu lachen, und der Mann, der mir das Gewehr gegeben hatte, sagte: ›Wir danken dir, kleiner Kamerad! Die läufige Hündin ist tot!‹
    Ich weiß noch, dass ich bei diesen Worten laut aufschrie. Und gleichzeitig stieg ein Brausen in mir empor, alles wurde neblig weiß, ich hustete und keuchte und würgte. Die Soldaten hatten das Haus angezündet, bewegten sich vor dem Rauch wie dunkelgrüne Schatten. Und jetzt begann auch Sonam, die neben Tante Ling kniete, zu wimmern und zu schluchzen, sie hielt sich beide Hände vors Gesicht, und Lhamo umfasste ihre Schultern, zog die sich heftig Sträubende an sich. Und schon wurden wir an den Schultern gepackt und zu dem wartenden
Lastwagen gezerrt. Der Wagen war schon voller Leute, Frauen und Männer und Kinder, die alle schrien, weinten oder beteten. Dann wurde die Plane zugezogen, sodass wir im Dunkeln kauerten, und der Lastwagen fuhr mit uns davon.«

ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    T iefes, langes Schweigen. Ich starrte an Kelsang vorbei. Ich wagte kaum, unsere Augen sich begegnen zu lassen. In seinem Blick, in seinen Gebärden und in seiner Haltung lagen so viel Kummer und Verständnis, dass es mir fast das Herz brach. Dass ich ihn unterschätzt hatte, war für mich das Schlimmste. Jetzt schwankte er etwas, doch schon wurde sein Rücken wieder gerade. Ich sagte nichts mehr; er war es, der sprach.
    »Dolkar, ich werfe deiner Jugend nicht vor, dass sie ungestüm fragt und voreilig urteilt. Du siehst es nicht und weißt es nicht, aber vielleicht errätst du, dass wir damals auf entsetzliche Weise auf die Probe gestellt wurden. Wir waren eigenwillige, verwöhnte Kinder. Wir boten gewiss ein klägliches Schauspiel. Doch wer glaubt, in der Jugend sei Lebensmühsal leichter zu tragen, irrt sich. Wir lernen nur schneller. Recht bald wurden wir fähig, Gewalt zu verstehen und selbst anzuwenden. Auf dem Weg ins Lager erlebten wir, wie ganze Dörfer ausgelöscht wurden. Wir sahen Verstümmelungen und Hinrichtungen jeder Art; wir stumpften ab. Es war ein Vorgang der moralischen Degradierung, der noch heute Anwendung findet. Weil er eben so außerordentlich gut funktioniert.«
    Kelsang stockte, fuhr mit beiden Händen über sein Gesicht. Ich senkte die Augen, und er sprach weiter.
    »Jeder von uns reagierte auf andere Art. Sonam zeigte heftige, stumme Wutausbrüche, schlug, spuckte und kratzte wie ein verwundetes Tier. Lhamo machte die Gesten, die man von
einer älteren Schwester erwartete, knöpfte unsere Jacken zu, rieb unsere eiskalten Hände, bis das Blut wieder zirkulierte, fand tröstende Worte, bewahrte Haltung, wobei sie sich bereits - ich wusste es damals nicht - eine Überlebensstrategie zurechtlegte, an die sie sich dann auch hielt. Und ich selbst? - Nun, zu Anfang ist nur wenig über mich zu sagen. Ich war innerlich wie gelähmt. Und jede Nacht sah ich Tante Lings blutiges Auge, das mich anblickte. Der Schreck überfiel mich in krampfartigen Anfällen, sodass ich laut schrie. Aber nachts schrien viele Kinder. Im Dunkeln standen sie unsagbare Angst aus und kuschelten sich aneinander. An Bauchweh und chronischen Durchfall waren wir gewöhnt. Wir alle starrten vor Schmutz.«
    Kelsang trank einen Schluck Tee, und ich fragte: »Wohin haben sie euch gebracht?«
    »An die chinesische Grenze, wo die Volksarmee bereits sämtliche Dörfer zerstört hatte. Wir mussten im Straßenbau arbeiten. Die Soldaten sagten, sie wollten testen, wie es mit unserem Revolutionseifer stand. Wir klopften Steine für das Wohl des Volkes, welches verlangte, dass immer mehr Soldaten ins Land geschafft wurden. Es war schwierig, eine Straße in diesem Gelände zu bauen. Bagger, wie man sie heute kennt, gab es damals in Asien noch nicht. In der Nähe gab es nur eine Hängebrücke; viele Gefangene waren dabei, neben ihr eine

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