Das Haus der Tibeterin
Vorarbeiter kochte oder deren Wäsche wusch. Sie pflegte auch die Gefangenen, nachdem sie - nur mit Lumpen um die Füße gewickelt - über den kleinen See zum Steinbruch zogen, was ihnen im Winter, wenn das Wasser fror, einen Umweg ersparte. In diese Richtung zeigte das weiße Eis, wie Vogelspuren, die blutigen Abdrücke ihrer Zehen. Viele zogen sich dabei Erfrierungen zu. Man amputierte ihnen die Zehen, und danach blieben sie im Lager, wo sie Küchendienst verrichteten und die Zelte flickten. Manche krochen auf den Knien herum, gehen konnten sie nicht mehr. Lhamo verband ihnen dann auch die Knie. Sie zeigte sich geschickt in diesen Dingen, weil ihr Großvater ja Arzt gewesen war. Ihre sanfte, kühle Schönheit bewirkte, dass sich einer der jungen Offiziere zu ihr hingezogen fühlte. Für die Partei galt Liebe als reaktionär. Huang Chi war wenig erfahren und Lhamo eine eher spröde Natur. Immerhin lernten sie einander vertrauen, und das war genug. Später reichten sie ein Gesuch ein und durften heiraten. Liebe, die sich auf gleichgerichtete politische Ideale gründete, wurde geduldet, solange sie nicht von der Arbeit ablenkte.«
An dieser Stelle unterbrach ich Kelsang: »Weißt du, was aus Lhamo geworden ist?«
Er antwortete gleichmütig.
»Nun, sie lebt offenbar noch in Lhasa. Ihr Mann soll inzwischen gestorben sein. Ich weiß nichts Genaues. Sonam will keinen Kontakt zu ihr.«
»Sonam ist nachtragend«, seufzte ich.
»Ja, das war sie schon immer. Heute weiß ich, dass ich sie bewunderte.
Ich war sehr unsicher. Dem Unsicheren werden Krücken gereicht; er kann auf ihnen durch sein Unterbewusstsein wie durch ein dunkles Land wandern. Auch wenn er jeden Tag älter wird, kann er nie auf eigenen Beinen stehen. Sonam war kein Feigling wie ich: Sie war eine kleine Kriegerin. Aber das kann ich ihr nicht sagen, noch heute nicht. Sie würde mich verachten. Sonam blieb standhaft sie selbst, während ich im Verlauf der Jahre tatsächlich den Tod erlitt, nämlich den Tod meines ganzen bisherigen Ich. Zuletzt blieb nur ein Häuflein Elend zurück, das nur noch darauf warten konnte, dass es, in welcher Form auch immer, irgendwann und irgendwie wiedergeboren wurde. Daran hat sich bis zum heutigen Tag kaum etwas geändert. Und so schwand meine kindliche Unschuld, mein Kopf konnte nichts fassen, alles lief über. Ich rief fröhlich auf Befehl ›Ja, ja‹ oder ›Nein, nein‹. Mein Gehorsam war eine perfekte Zuflucht, der Winter der Seele ließ sich dort ausgezeichnet überstehen, vom Frühsport in der Dämmerung bis zum Löschen jeden Lichts spätabends. Es ist reiner Überlebenswille, wenn man mit seinen Peinigern gemeinsame Sache macht. Und es ist zugleich reine Niedertracht, weil es uns Vorteile bringt, während die anderen im Dreck sitzen. Wir liebäugeln mit potenziellen Beschützern und verlieren keine Gedanken an jene, die nachts ihren Kopf gegen die Wand schmettern, damit sie bluten und zwei Tage lang liegen können. Ich akzeptierte sozusagen die Gemeinheit, ich half ihr, zu existieren, weil auch ich gemein war. Noch erkannte ich nicht, dass die Leiden eines einzelnen Menschen die Leiden aller Menschen sind und dass mit dem Tod eines Menschen die Welt untergeht.«
Unvermittelt schüttelte Kelsang ein Hustenreiz. Er zog seine Robe über die hageren Schultermuskeln, als ob es ihm plötzlich kalt geworden wäre. Dabei hatte sich die Temperatur im Zimmer überhaupt nicht verändert.
Weil er auf einmal so entkräftet aussah, schenkte ich ihm frischen Tee ein und reichte ihm die Schale.
»Trink!«
»Ja.«
Er trank hastig und laut schlürfend und gab mir die Schale zurück. Dabei sagte er in ziemlich scharfem Tonfall: »Du hast mir vorgeworfen, in Symbolen zu reden. Vielleicht wollte ich dich schonen. Nun, es geht auch anders. Und was ich dir jetzt zu sagen habe, wird sich konkret und ziemlich brutal anhören. Ich wollte dich nur vorbereiten«, setzte er fast arglistig hinzu, wobei er wie ein finsterer Vogel den Kopf schräg legte.
DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL
I ch muss jetzt von Sonam erzählen.«
Kelsang sah mich hart und starr an, als stünde er im Visier eines Gewehrs, so befangen war er. Er zögerte nicht, eigene Schwächen einzugestehen, empfand mir gegenüber aber Beschämung. Ich saß still da auf dem wackligen Stuhl vor dem Fenster. Vielleicht war ich für ihn nur eine Silhouette, mein Körper und mein Gesicht im Gegenlicht. Das mochte ihm die Sache erleichtern.
»Sonam war schmutzig wie ein kleines Tier,
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