Das Haus der Tibeterin
Steinbrücke zu bauen. Hier wurden nur kräftige Männer eingesetzt. Sie gingen schon beim ersten Tageslicht mit geschulterter Hacke und Schaufel an die Arbeit. Wir erfuhren, dass viele dabei schon ertrunken waren. Ein großer Steinbruch war steil in den Fels geschnitten. Wir holten dort die Steine, die von Gefangenen aus dem Berg gebrochen wurden. Der Fels war krümeliger Staub im Sommer und eisiger Schlamm im Winter. Jeden Augenblick konnte der Hang als Kieselregen über uns hinwegfegen oder sich in Steinblöcken lösen, die zerbröckelten, wenn sie aufschlugen, aber stark genug waren,
um die Arbeiter zu töten. Wir arbeiteten in Gruppen und zerkleinerten die Steine, bevor wir sie an bestimmten Stellen aufschütteten. Wir schleppten diese Steine auf unseren Rücken, arbeiteten in stechender Sonne oder beißender Kälte. Einige der Gefangenen trugen Fußeisen, damit sie nicht entfliehen konnten. Diese Eisen waren oft zu eng. Die Haut einiger Männer war bis auf die Knochen durchgescheuert. Weil sie über und über mit weißem Staub bedeckt waren, sah man nicht einmal mehr das Blut.
Sämtliche Vorarbeiter und Aufseher waren Han-Chinesen. Sie waren bewaffnet und trugen eine Peitsche bei sich, mit der sie die Gefangenen schlugen, wenn diese nicht mehr konnten. Wer sich vor Erschöpfung hinlegte, dem brach man zur Strafe ein Bein, damit er sich nicht mehr von der Stelle rühren konnte. Einige verhungerten oder erfroren dabei. Zerschlissene Zelte dienten uns als Unterkunft, und wir hatten nur eine Decke. Täglich bekamen wir eine Handvoll Reis, etwas Tee oder Wasser. Damit mussten wir auskommen. Sobald es dunkel war, aber nie vorher, durften wir in unsere Zelte gehen. Aber der Tag war noch nicht zu Ende für uns. Abends kamen die Jungkommunisten, die landauf und landab in kleinen Jeeps fuhren, mit prächtig bestirnten roten Fahnen geschmückt. Im Licht der Fackeln lehrten und predigten sie mit unnachgiebiger Beharrlichkeit. Sie sagten, dass alte Gewohnheiten langsam sterben würden, dass wir aber das große Glück hätten, die friedliche Befreiung Tibets zu erleben. Es war nicht so, dass wir nicht sprechen durften. Im Gegenteil, wir wurden dazu genötigt. Aber viele Kinder trauerten um ihre Eltern und weinten nur. Diese Eltern hatte man dem ›Thamzing‹ unterzogen - ein Strafgericht mit Selbstanklage. Die Kinder hatten erlebt, wie die Eltern gezwungen wurden, ›Verbrechen gegen das Volk‹ zu gestehen. Diese Leute waren zumeist Bauern, hatten aber in mühsamen Arbeitsjahren ein bescheidenes Vermögen erworben. Ein Vermögen, das ihnen jetzt zum Verhängnis
wurde. Alles, was sie besaßen, wurde beschlagnahmt und sie selbst der ›Reform durch Arbeit‹ ausgesetzt. Die Jungkommunisten sagten, dass solche Opfer gern gebracht würden. Sie waren nicht brutal wie die Soldaten. Sie zeigten sich sogar recht freundlich; waren sie doch darauf aus, uns für sich zu gewinnen. Als sie erfuhren, dass Lhamo Chinesisch sprach, wurde sie ersucht, ein kleines Wörterbuch zu verfassen. Man gab ihr Hefte und Schreibzeug. Klug, wie sie war, nutzte Lhamo diese Bevorzugung, weil sie hoffte, mit ihrer Bereitschaft unser Los zu erleichtern. Und tatsächlich, als Sonam und ich an Furunkeln erkrankten und voller Eiterbeulen waren, gab ihr einer der Jungkommunisten eine Salbe, die uns half. Das Beispiel prägte sich mir ein. Ich begann, mich mit feiner Witterung für die eigene Sicherheit gehorsam und lernwillig zu zeigen, wie einst in der Schule. Ich erreichte mein Ziel und wurde bevorzugt behandelt: mehr Reis in der Schale, etwas Rettich hier, einen Becher heißen Tee dort. Schwach in den Muskeln, krankheitsanfällig, aber egozentrisch und gerissen, merkte ich bald, was gut und was schlecht für mich war. Ich brachte es sogar fertig, meine furchtbaren Erinnerungen irgendwie zu verdrängen. Sie waren in einer anderen Welt geschehen, in einem anderen Leben, und schließlich … ja schließlich war Tante Ling tatsächlich kein gutes Parteimitglied gewesen. Die Jungkommunisten beherrschten ihr Fach, passten ihre Reden unserem Begriffsvermögen an. Es war niemandem möglich, sich auszuschließen. Alle mussten mitmachen. Unsere Gedanken wurden neu geordnet; was früher richtig gewesen war, war falsch. Bei ihnen gab es weder religiöse noch moralische Gefühlsduseleien. Und immer wieder sprachen sie von der Revolution, dem gewaltigen Werk, das sich im Bau befand und uns alle brauchte. Und so begann bei manchen von uns, ganz allmählich, der Wandel.
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