Das Haus der Tibeterin
hineingestoßen worden in die schreckliche Hermetik eines Wahnsystems, das alle Gefühle, alle Gedanken verdrehte. Die Augenblicke, in denen ich zum Verräter und Folterknecht wurde, formten sich vor meinen inneren Augen wie zurückgespiegelte Bilder, so unerträglich lebensecht, dass ich von einer nicht enden wollenden Übelkeit befallen wurde. Es war, als müsste ich mein Leben würgend herausspucken. Müdigkeit, Schmerz und Hunger legten sich allmählich in immer dichteren Schichten auf mich. So verging die Zeit, und ich merkte es kaum. Eine seltsame Leichtigkeit war in meinem Kopf, obwohl ich starke Schmerzen litt und vor Fieber glühte. Die Granitwand, die Wälder, ja der kalte Boden selbst schimmerten hell im Tageslicht und dunkel in der Nacht, wenn die Sterne glühten. Ich fühlte mich nicht einsam; meine Seele war ja wieder bei mir, und Buddha sah auf mich mit größerer Milde herab als eine Mutter, die sich über ihr Kind beugt, es tröstet und sagt, es solle nicht zornig sein. Bald aber nahm mir der Schlaf alle Sorgen, die Schmerzen kamen und gingen, ich erduldete sie wie alles andere auch, ohne Auflehnung, ohne Groll. Das alles hatte ich verdient, weil ich Mao Tse-tungs Lügen mehr Glauben geschenkt hatte als Buddhas Wort. Meine Glieder fühlten sich unendlich schwer an, vor allem mein Kopf. Doch irgendwann kamen mir Bruchstücke einer Anrufung in den Sinn, die ich einst in Lhasa von den betenden Lippen der Mola gehört hatte. Ich murmelte sie vor mich hin, mit dumpfer Verwunderung, dass ich mich ihrer
überhaupt noch entsann: ›Alles, was ich früher getan habe, hat Leiden verursacht.
Wegen meiner schlechten Taten wurde ich am Anfang des dunklen Zeitalters geboren.
Wegen übler Freunde habe ich den Weg der Wahrheit verlassen.
O Barmherziger, gewähre mir deinen Segen, sodass ich meinen Feind, das eigene Ich, besiege.
Gewähre mir deinen Segen, dass ich befreit werde und eins mit dir sein kann.
Gewähre mir deinen Segen …‹
So wohltuend diese Worte waren - ich hätte mich früher auf sie besinnen sollen. Doch bald kam wieder eisige Kälte, eine Schwäche des Herzens und eine Dunkelheit, die meine Seele frösteln ließ. Ich krümmte mich und machte mich kleiner, um sie festzuhalten und sie zu trösten. Wahrscheinlich gelang es mir auch, denn sie hatte plötzlich einen warmen Atem und warme Hände. Sie sprach zu mir mit unbekannter Stimme, tastete meinen Körper ab, berührte meine gebrochene Hüfte, sodass ich aufschrie. Was tat meine Seele mit mir? Ich hörte Dinge, die ich zuvor nie gehört hatte, hörte sie ganz deutlich, ein Durcheinander von Klangvibrationen, ein Knirschen auf den Kiefernnadeln, dicht an meinem Kopf, schleifende Laute auf wurzeldurchsetzter Erde. Undeutliche, in Nebel gehüllte Gestalten bewegten sich. Ich sah sie in Umrissen, roch ihre Gerüche nach alten Kleidern, nach Holzkohle und Weihrauch. Eine Stimme stellte eine sinnlose Frage, und eine andere gab Antwort: ›Zu hoch für ihn, viel zu hoch!‹
Doch die Stimme, die zuerst gesprochen hatte, sagte: ›Wir können ihn nicht hierlassen. Wir schaffen es schon.‹
Hände tasteten an mir hinauf, packten mich mit behutsamem Griff. Als die Hände mich hoben, kreischte meine Seele vor Schmerz. Ich konnte diese Hände nicht sehen, spürte nur diese entsetzlichen Flammen im Rücken, als sie mich herumdrehten.
Schon glitt die Welt unter mir fort, ich konnte Buddhas Gesicht nicht mehr erkennen, denn auch er hatte sich umgewandt, sodass ich ihn von der anderen Seite sah. Er besaß eben diese Eigenschaft, dass er sich meiner Wahrnehmung entzog. Und gleichzeitig wurde mein ganzer Körper von Stößen erschüttert. Jeder Stoß verursachte einen neuen Schmerz, unfassbar, ungeheuerlich. Meine Seele knirschte mit den Zähnen, schrie, weinte und betete. Als sie laut Buddhas Namen rief, legte sich eine warme Hand auf meine Stirn, und eine sanfte Stimme murmelte: ›Gleich, mein Sohn, gleich!‹
Mein Gehirn zuckte und schlug gegen die Hirnschale, als die Felswand sich schaukelnd und schwankend auf mich zuwälzte. Ich hörte ein Keuchen und Schnaufen, dazu scheuernde, stapfende Geräusche. Es roch nach Staub und nassem Holz. Manchmal musste ich sitzen; das waren die schlimmsten Augenblicke, schien ich doch in zwei Stücke geteilt. Dann packten die Hände wieder fester zu, zogen mich empor, alles zerrte, riss und schmerzte. Ich bestand nur noch aus einem steifen, mit Haut überzogenen Knochengestell, an irgendwelchen Seilen hochgezogen. Der
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