Das Haus der Tibeterin
selbstgeschaffen, gewiss, aber gleichwohl eine Hölle, von jetzt an und für wie lange? Nun kauerte er vor mir, ein alter, verbrauchter Mann, und durch die dünne Wand seiner Gefühle war das Leid sichtbar, das ich aus ihm herausgelockt hatte. Ich hatte ihn gezwungen, dieses Leid in Worte zu fassen. Ich hatte mich mal wieder danebenbenommen.
Ich griff nach meiner Jacke.
»Sei mir nicht böse, Onkel Kelsang.«
»Ich bin dir nicht böse«, sagte er. »Aber fang nie wieder davon an!«
»Nein. Ich danke dir, Onkel Kelsang.«
Ich faltete beide Hände in Brusthöhe und verneigte mich. Er berührte meine Stirn, gab mir flüchtig seinen Segen. Ich verließ die Zelle, mit erhitzten Wangen, ohne einen Blick zurück. Und jetzt stand ich vor einer Wand: Sonam.
NEUNUNDDREISSIGSTES KAPITEL
I ch setzte mich in den Wagen, putzte mir laut die Nase. Ich fühlte mich scheußlich. Ich klaubte mein Handy hervor und rief bei Sonam an. Sie war zu Hause.
»Ich muss dich sehen«, sagte ich.
»Wieso? Was ist denn schon wieder los?«
»So allerhand.«
»Wo bist du denn?«
»In Rikon. Ich war bei Kelsang.«
Pause. Dann: »Jetzt geht es nicht. Ich habe eine Patientin hier.«
Nachbarinnen, die sehr betagt oder behindert waren, empfing sie zu Hause.
»Wann kann ich denn kommen?«
»Heute Abend. Aber eins sage ich dir jetzt schon: Ich bin nicht in Stimmung zu reden. Die Behandlungen kosten mich viel Energie.«
Das stimmte. Aber egoistisch, wie ich war, dachte ich nur: Und wie steht es mit meiner Energie? Ich fuhr nach Zürich zurück, viel zu schnell, wie ein Insekt, das über Wasser schlittert. Dolkar die Raserin … In mir raste alles, das Blut, das Herz. Die Zweideutigkeit, der Wahnsinn dieser Geschichte brachte meinen ganzen Stoffwechsel in Schwung. Es gab da ein Rätsel, und der Schlüssel lag bei Sonam. Nahezu fünfzig Jahre waren vergangen, seitdem China Tibet erobert hatte. Gewiss war ich neugierig gewesen, gewiss hatte ich Fragen gestellt. Und auch Antworten erhalten. Aber wenn Sonam sich mit einer zu direkten
Frage konfrontiert sah, hieß es sogleich, die Sache sei schwierig. Damit sollte angedeutet werden, dass man über diese Dinge nicht reden konnte, weil sie das Fassungsvermögen des Wortschatzes und der Gefühle überstiegen. Ich hatte immer gedacht, das sei übertrieben. Ich bemühte mich genau zu sehen, genau zu denken. Jetzt musste ich spekulieren, eine sehr irritierende Sache. Ich hangelte mich von Empfindung zu Empfindung, wie Kelsang damals auf seiner Leiter, dieser Horrortrip! Aber so konnte ich das Spiel nicht mehr spielen. Kelsang hatte zu viel gesagt. Oder zu wenig?
Abends fand ich problemlos einen Parkplatz und stapfte über den Weg zwischen den kleinen Gartenstücken. Es war schon dunkel. Mutter öffnete die Tür, bevor ich klingelte.
»Ich sah dich aus dem Fenster.«
Hatte sie nach draußen gestarrt und auf mich gewartet? Hatte sie Angst? Ich zog meine Schuhe aus, ging in Strumpfhosen in die Wohnung, schob meine Füße in die bereitgestellten Pantoffeln. Sonam stand da, betrachtete mich. Ihre Augen waren forschend und durchdringend. Wie klein sie ist!, dachte ich. Und wie gebieterisch sie blicken kann! Doch jetzt schielte sie auf die Schachtel, die ich in der Hand hielt. Ich war bei einem Bäcker gewesen, hier im Viertel, der am Samstag noch aufhatte. Von Kuchen bekam Sonam nie genug.
»Kaffee?«, fragte sie.
Ich packte behutsam die Schachtel aus. Schwarzwälder Kirschtorte, Cremeschnitten.
»Die sehen ja gut aus!«, murmelte Sonam. Sie ging in die Küche, stellte die Kaffeemaschine an und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Sie trug Hosen und einen Pullover mit Rollkragen. Ich war überrascht, wie jugendlich sie noch aussah.
Nachdem sie Milch und Zucker gebracht hatte, setzte sie sich mir gegenüber, nahm eine Cremeschnitte in die Hand und biss herzhaft hinein.
»Gut?«, fragte ich.
»Mmm«, nickte sie mit vollem Mund.
In meiner rücksichtslosen Art überfiel ich sie sogleich: »Ich war zwei Stunden lang bei Kelsang. Er hat mir erzählt, wie es im Lager war.«
Eine Spur von Erschrecken zuckte um ihren Mund.
»Alles?«
»Fast alles«, sagte ich.
Sie nahm einen Schluck Kaffee.
»Er sollte nicht ständig davon reden!«
»Amla«, sagte ich, »es war das erste Mal …«
Ihr Gesicht drückte plötzlich einen unüberwindlichen Ekel aus.
»Doch nur, weil du gefragt hast. Warum tust du das?«
»Weil ich die Wahrheit wissen will. Du weißt, dass ich sehr konsequent bin.«
»Ja, wenn es sein
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