Das Haus der Tibeterin
versuchen. Nach den ersten Bewegungen dauerte es nicht lange, bis die Kraft zurückkehrte. Ich stand zunächst auf die Schultern zweier Mönche gestützt. Dann schnitzten sie mir Krücken, auf denen ich gehen konnte. Und bald bewegte ich mich wieder auf meinen Füßen, wie einst. Ich zog nur mein linkes Bein nach, wie ich das auch heute noch tue. Dank meiner Jugend und meines robusten Körperbaus konnte die Heilung stattfinden, meinte Tsering Geshe. Als ich zum ersten Mal in Wind und Sonnenlicht stand, tief die würzige Bergluft einatmete, kam ich mir vor wie aufgestanden vom Schlaf, wie eben geboren, einem Vogel ähnlich, der aus dem Ei schlüpft und eine neue Welt erblickt. Weil der Abt wollte, dass ich mich bewegte, ging ich im Kloster auf Entdeckung. Ich stellte fest, dass der Bau auf verschiedenen Plattformen errichtet war und wie eine Bienenwabe am Berghang klebte. Die Räume empfingen Licht durch schmale Fensterluken. Die Wände bestanden aus Mörtel und Balken; manche Teile waren sogar als Höhlen in den Fels gehauen, und die Mönche wohnten dort. Ich kletterte über Leitern verschiedener Länge, die einen Teil des Klosters mit dem nächsten verbanden. Zunächst kam ich nicht weiter als über ein paar Sprossen, dann wagte ich mich höher oder tiefer. Die Mönche, die sich trotz ihres Alters gelenkig auf jede Leiter wagten, riefen mir zu, ich solle vorsichtig sein. Ich rutschte bis ganz an den Rand der Mauer vor, ergriff mit beiden Händen die Holzleiter, beugte mich hinab. Ja, so musste den Vögeln und Eichhörnchen zumute sein, die in einer Welt der Bergspitzen und Baumkronen wohnten! Hier war die Schönheit und Freiheit der Natur, zu der der Geist sich aufschwingen konnte. Ich empfand große Unbeschwertheit und Geborgenheit und fühlte mich glücklich wie schon lange nicht mehr. Das Böse
wütete tief unten, im Tal. Aber hier oben umfing mich das reine Grün der Wälder und alles Blau des Himmels.
Es dauerte nicht mehr lange, da setzte ich Tsering Geshe von meinem Wunsch in Kenntnis, als Novize in diesem Kloster die heiligen Schriften zu studieren. Der Abt schenkte mir wie stets seine liebevolle Aufmerksamkeit, doch seine Antwort war nicht jene, die ich mir erhofft hatte.
›Dein Vertrauen ehrt uns, mein Sohn. Dennoch - es ist besser, du gehst. Du bist noch zu jung, um dein Leben inmitten alter Männer zu verbringen. Sieh doch, wir sind nur noch wenige, und es kann täglich geschehen, dass unser Kloster entdeckt und zerstört wird. Wenn man, wie wir, schon an der Schwelle des Todes steht, hat man’s leicht. Du aber, kaum dem Kindesalter entwachsen, sollst wissen: Das Leben ist ein Geschenk. Es zu vergeuden wäre nicht recht. Die Welt ist wunderbar und vielfältig. Bevor du die Wahrheit in einem Kloster suchst, spüre sie draußen auf, im Leben.‹
Er war der Meinung, dass ich Tibet verlassen sollte. Tausenden von Flüchtlingen gelang es, nach Indien zu entkommen. Ich prüfte gründlich seinen Vorschlag und willigte schließlich ein. Der Abt ließ mir einen blauen Overall anfertigen, denn das Tragen der traditionellen Tschuba war verboten. Ein Mönch hatte irgendwo eine chinesische Kappe gefunden, die er mir lachend über den Kopf stülpte. So, rief er, würde mich keiner erkennen! Die alten Mönche standen in kindlichem Frohsinn um mich herum und bestätigten dies mit allerlei Scherzworten. Einer brachte mir einen robusten Stock, den er unter sorgfältiger Abmessung meiner Armlänge für mich geschnitzt hatte. Er meinte, der Weg sei weit und ich bräuchte noch eine Stütze. Tsering Geshe gab mir Geld aus der eigenen Schatulle, obwohl er kaum noch das Nötigste besaß. Ich erhielt eine Decke, die ich um die Schultern trug, und selbst angefertigte Sandalen. Es war Sommer. Die Nächte waren kühl, aber die Tage noch warm. Zum letzten Mal betete ich im kleinen Heiligtum,
strich mit der Handfläche über die abgegriffenen Gebetsmühlen und verabschiedete mich von den Mönchen, die Tränen in den Augen hatten. Das Eichhörnchen kam zum letzten Mal und ließ sich von mir liebkosen. Die Mönche, allen voran der Abt, begleiteten mich bis an den Rand der Mauer. Tsering Geshe legte seine Stirn an meine, segnete mich mit innigen Worten, die er leise formte. Eine Kata - eine Glücksschärpe - gab er mir nicht: Sie hätte mich verraten können. Zum Abschied lächelte er, ein wehmütiges Lächeln.
›Der Weg zu Buddha ist offen. Du kannst ihn jederzeit finden. ‹
Das waren die letzten Worte, die er mir auf die
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