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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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muss, gehst du über Leichen.«
    »Amla, ich bitte dich!«
    »Er wurde Mönch, weil er sich schuldig fühlte, nur deswegen. Am liebsten hätte er sich ein Loch in der Erde gesucht, um sich darin für immer zu verkriechen. Ein Kloster ist bequemer, das gebe ich zu.«
    »Er hat mir von seiner Flucht erzählt. Und von dem weinenden Buddha …«
    Sie zog geringschätzig die Schultern hoch.
    »Nun ja, es war Schneeschmelze. Lass ihn doch endlich in Ruhe! Und am Ende, wer weiß, überkommt ihn die Erleuchtung?«
    »Er quält sich mit Selbstvorwürfen. Ich glaube, es hat ihn sogar erleichtert, mit mir darüber zu reden. Mir scheint, dass er jemanden brauchte, der ihn zwang, sich diese Dinge mal vom Herzen zu reden. Vielleicht können sie jetzt endlich aus seinem Leben verschwinden.«
    »Verschwinden werden sie nie. Wenn du das glaubst, bist du sehr leichtgläubig.«

    »Ich bin sachlich. Es ist nicht immer gut, alles für sich zu behalten. Man kann nicht so weiterleben. Was hätte das für einen Sinn, mit diesem Kummer?«
    Sie stopfte eine zweite Cremeschnitte in sich hinein, als ob sie seit Tagen nichts zu sich genommen hätte.
    »Sei nicht so gefühlsduselig!«
    »Ich bin nicht gefühlsduselig. Ich bin nur hartnäckig. Sag, Amla, dieser Nomade, der dich gerettet hat, was wurde aus ihm?«
    Die Reaktion kam unerwartet. Über Sonams Lippen kam ein leiser Aufschrei.
    »Was aus Alo wurde? Was hat dir Kelsang gesagt?«
    »Nichts, das ist es ja eben. Er weiß es nicht.«
    Sie entspannte sich ein wenig.
    »Wie sollte er auch!«
    Ich sagte beherzt: »Amla, tu mir den Gefallen! Ich habe immer mehr das Gefühl, dass zwischen dir und Alo etwas sehr Wichtiges vorgefallen ist. Etwas Wesentliches, von dem ich keine Ahnung habe.«
    »Das wird auch in Zukunft so bleiben«, erwiderte sie kalt.
    »Amla, versteh mich doch bitte! Ich habe ja gewusst, dass es euch dreckig gegangen ist. Aber nicht in solchem Maße!«
    »Das hättest du dir ja denken können.«
    »Etwas musst du Kelsang doch gesagt haben …«
    »Nein. Ich habe nie …«
    Sie stockte, wiegte sich leicht vor und zurück. Sie hatte diese wiegende Bewegung schon früher gehabt. Ich nahm an, sie half ihr, die innere Anspannung zu lockern. Tatsächlich hatte sie sich wieder im Griff oder tat zumindest so. »Ich habe diese Schläge nicht nur auf den Rücken bekommen, sondern mitten ins Gesicht, all diese Schicksalsschläge. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es war, nicht einmal im Traum kannst du das. Und man kann eben manche Dinge nicht beschreiben. Ich war
noch so jung. Und dass auch ich, wie Longsela, einmal in die Lage kommen würde …«
    Sie presste sich die Hand auf den Mund, als ob ihr nach der zweiten Cremeschnitte übel geworden wäre.
    »Ich bin ganz durcheinander, das hast du jetzt davon.«
    »Amla, es tut mir leid. Ich wollte nicht …«
    Ihre Augen funkelten mich an, sodass ich unwillkürlich den Blick senkte.
    »Glaubst du nicht, dass deine überlegene Haltung hier fehl am Platze ist?«
    Ihre Stimme klang zornig, duldete keinen Widerspruch. Mit jedem Wort spürte ich einen geheimnisvollen Zwang auf mich einwirken. Doch sie unterschätzte mich dabei: Ich nahm den Kampf zwischen zwei Willen auf. Aber ich hatte kaum noch Munition.
    »Ich fühle mich nicht überlegen, ganz und gar nicht, glaub mir doch! Was hast du vorhin über Longsela gesagt?«
    »Über Longsela?« Ich hatte genau ins Schwarze getroffen. Ihre Stimme klang, als führe Sonam aus dem Schlaf auf. »Ach, was willst du denn noch mehr wissen? Das liegt doch schon Tausende von Jahren zurück.« Sie sprach jetzt in entschiedenem Ton und wirkte wieder sehr selbstsicher. »Und siehst du, es gibt Dinge, die im Dunkel dieser Jahre unsichtbar werden. Ich bin eine Überlebende, und ich bin alt. Aber der Kummer darüber, dass andere sterben mussten, bleibt jung. Ich kann dich nicht daran hindern, Menschen mit deiner Fragerei vor den Kopf zu stoßen. Aber führe mich nicht zu meinem Kummer zurück! Der Kummer führt zu weit, Dolkar, bis in die öden Nächte des Winters. Ich weine schon lange nicht mehr; anstelle meines Herzens schlägt ein dunkler, kalter Stein. Mein Leid ist steinerner Natur. Und wenn du es nicht verstehst, ist es auch egal. Trotz allem lebe ich und bin frei. Lass uns endlich in Frieden, Dolkar! Hast du denn kein Mitleid?«
    Sie spricht von Alo, dachte ich. Sie spricht die ganze Zeit nur
von ihm. Aber sie will nicht an ihn denken. Alo war eine Gestalt, die sich im Dunkel verbarg und sein Gesicht nicht

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