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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Reise mitgab. Ich schwang mich über die Mauer, setzte meine Füße auf die erste Sprosse, stieg unbeholfen, aber beharrlich die verwitterten Leitern hinab, während das Eichhörnchen noch eine Weile lustig neben mir her hüpfte. Dann, auf halber Höhe, ertönte von oben ein Pfiff. Sofort huschte das Eichhörnchen die Sprossen hinauf, zu dem Mönch, der es zurückrief. Ein paar Atemzüge lang fühlte ich mich dann verlassen und einsam. Da hob sich die Sonne über die Bergspitzen, tauchte die Gestalt Buddhas in klares Morgenlicht. Mir schien, dass die Augen, die einst um mich geweint hatten, nun ein Lächeln zeigten. ›Geh in Frieden!‹, sprachen die steinernen Lippen zu mir. ›Ich bin immer bei dir!‹ Und so stieg ich weiter hinab, eine Sprosse nach der anderen. Dohlen mit ausgebreiteten Flügeln kreisten wie trunken im Licht, schrien mir Abschiedsgrüße in den Wind. Und als ich unten am Hang stand, ein letztes Mal nach oben blickte, erschien mir das unsichtbare Kloster wie ein Traum, ein zärtlich gehegtes Wunschbild selbstloser Liebe. Nun war ich wieder im Tal, in einem Strom von Schmutz und Gemeinheit; hier war das Leben ein unbarmherziger, gehässiger Kampf. Ein Kampf, unter dem roten Banner geführt, der zum Ziel hatte, die Kultur, die Religion und die Lebensweise eines ganzen Volkes zu vernichten.«

ACHTUNDDREISSIGSTES KAPITEL
    M eine Gedanken gingen wild durcheinander, fragen konnte ich nicht mehr. Da saß ich nun und blickte in das Zimmer hinein, in diese Mönchszelle, weil das Gegenlicht meinen Augen weh tat. Kelsang hatte sich hier seinen Käfig gebaut, einen Käfig für die furchtbaren Hemmungen, die ihm das Leben versperrten. Eine vollkommene kühle Einsamkeit. Die brauchte er, das musste sein, sonst wäre er zugrunde gegangen. Brach er aus dem Käfig aus, war er verloren. In Selbstachtung würde er nie leben können.
    Wie lange hatte er gesprochen? Ich wusste es nicht. Mittag war längst vorüber, mir war der Appetit vergangen. Manche Erinnerungen tragen eine intensive Kraft in sich, mit einer geballten elektrischen Ladung vergleichbar. Kelsang hatte sich von ihnen mitreißen lassen und verausgabt. Als er sich aufrichtete, um frischen Tee aufzugießen, verlor er fast das Gleichgewicht.
    »Warte, bleib sitzen«, sagte ich. »Ich mach das schon!«
    Er ließ sich wieder zurückfallen.
    »Danke!«
    Er saß da, befangen und beschämt in seinem schlechten Gewissen. Argwöhnisch folgte er meinen Bewegungen mit den Augen, rührte sich aber nicht. Ich war erschüttert, es brach mir fast das Herz. Trotzdem gelang es mir, in beiläufigem Ton zu sprechen.
    »Macht dir deine Hüfte immer noch zu schaffen?«

    Er schüttelte leicht den Kopf.
    »Wenn sich das Wetter ändert, nur dann.«
    Er trank seinen Tee mit lautem Schlürfen. Er hielt die ganze Zeit sein Gesicht ein wenig von mir abgewandt. Sein Geist war flink und wachsam, aber unzugänglich. Es war, als habe er unbewusst einen Kampf mit mir aufgenommen. Er dachte wohl, dass ich ihn verurteilen und hassen würde. Doch ich weigerte mich, ihn zur Zielscheibe meines Zorns zu machen. Am Ende war ich ihm dankbar, denn er hatte einige meiner Fragen geklärt. Aber nicht alle.
    Ich setzte mich wieder ihm gegenüber.
    »Und was wurde dann aus dir?«
    Er krümmte sich ein wenig. Sein nach wie vor scharfer Blick zuckte zwischen den Lidern auf.
    »Ich schlug mich durch. Die Flüchtlinge halfen sich gegenseitig. Wenn es ging, suchte ich Obdach in einem Kloster. Schließlich kam ich nach Indien, in ein Lager des Roten Kreuzes.«
    Er war müde. Seine Stimme, die so eindringlich gesprochen hatte, war fast tonlos geworden.
    »Da verbrachte ich ein paar Monate. Täglich kamen neue Flüchtlinge. Ich trug inzwischen die Novizenrobe und half, die Menschen zu versorgen. Und eines Tages …«
    Er stockte. Ein Schweißfilm überzog sein Gesicht. Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.
    »… eines Tages war auch Sonam unter ihnen. Sie hatte zum dritten Mal die Wachtposten überlistet. Und diesmal war ihr die Flucht gelungen. Vorher war sie in einen solchen Schlamassel geraten …«
    Ich hätte am liebsten gesagt: … doch nur, weil du sie verraten hattest! Aber ich hielt den Mund. Niemand hätte Sonam je davon überzeugen können, dass Freiheit vom Gesetz nicht erlaubt sei. Sie glich einem Schmetterling, der mit verletzten Flügeln doch nicht müde wurde, wieder und wieder aufzuflattern.
Ihr Mut war atemberaubend, die Zähigkeit ihres Freiheitswillens ein Ereignis in der

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