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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Dämmerung zwischen Leben und Tod.
    Kelsang sprach weiter, mit einer Art verzweifelter Sorgfalt jetzt. Dabei schien er noch immer auf etwas zu blicken, das nicht da war, etwas, das seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm.
    »Ganz auf sich gestellt, wäre Sonam der enormen Anstrengung wohl nicht gewachsen gewesen. Aber der Zufall wollte es, dass sie diesen Nomaden traf.«
    »Welchen Nomaden?«, fragte ich erstaunt.
    »Du weißt doch, Kanams Sohn …«
    »Wie?«, rief ich fassungslos. »Alo? Davon hat mir Sonam nie etwas gesagt. Wie kann das überhaupt sein? Sonam war ja noch gar nicht auf der Welt, als Longselas Vater ihn heilte.«
    Kelsang zuckte ein wenig die Achseln.
    »Die Dzi-Steine, erinnerst du dich?«
    »Ja, Sonam trägt sie noch immer.«
    »Sie gehörten ursprünglich Alos Mutter.«
    »Ich weiß. Die Kette war eine Gabe für Longsela, weil Alo wieder gesund war. Später hatte Longsela ein paar Steine von der Kette gelöst und für Sonam ein Halsband damit angefertigt.«
    Kelsang nickte.
    »Das eine oder das andere erzählt sie.«
    »Es ist schwer erträglich, dass sie nicht alles erzählt.«
    Kelsang kratzte sich heftig am Arm. Ich sah, wie die Haut rot wurde - Ablenkung? Er sagte: »Damals nahmen die Chinesen allen tibetischen Frauen den Schmuck ab, sogar ihre kleinen Muschelketten. Mir ist rätselhaft, wieso Sonam die Kette behalten konnte. Ich nehme an, weil sie wie ein Junge aussah. Die Kette wurde einfach nicht bemerkt. Jedenfalls erkannte Alo die Steine und erfuhr auf diese Weise, wer Sonam war.«
    Ursache und Wirkung, dachte ich, von Staunen erfüllt. Zwischen
den beiden Ereignissen - Alos Genesung damals und sein späteres Zusammentreffen mit Sonam - verlief eine Linie, vielfarbig schillernd wie ein Regenbogen. Sonams Begegnung mit Alo stellte für alle Dinge eine Gleichzeitigkeit her, eine Erfüllung dessen, was vorher Verheißung gewesen war. In aller Stille hatte sich etwas Großes ereignet. Aber warum sprach Sonam nie darüber? Warum bloß nicht?
    »Und dann?«, fragte ich.
    Ich hörte, wie er mit den Zähnen knirschte. Er biss sich hart auf die Lippen.
    »Es war schrecklich für mich. Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt. Wie eine alte Frau sah sie aus, klein, vertrocknet und mager. Ich weinte und sagte, dass es mir leidtat. Ich wollte ihr auch sagen, dass ich, in gewissem Sinne, stolz auf sie war … Ja, so war es … ich war stolz auf sie, dass sie noch so war, immer noch, nach alldem, was sie mitgemacht hatte. Aber das sagte ich ihr nicht, weil sie es nicht verstanden hätte. Ich sagte nur das eine: ›Es tut mir leid! Vergib mir!‹«
    »Und Sonam?«
    Kelsangs Hände zitterten. Selbst der Teebecher, den er hielt, zitterte mit ihnen.
    »Es sei ihr egal, meinte sie. Es klang sehr hart in meinen Ohren.
    Ich erklärte ihr, dass ich jetzt die heiligen Schriften studierte. Sie hatte ja gesehen, dass ich die Novizenrobe trug. Sie sagte daraufhin: ›Wenn du ein Mönch wirst, wie du ein Pionier warst, dann wirst du gewiss ein guter Mönch werden.‹
    Wie tröstlich, dachte ich, dass sie sich, nach alldem, was geschehen war, ihre scharfe Zunge bewahrt hatte.«
    »Und was wurde aus Alo?«, fragte ich.
    »Er ist tot«, sagte Kelsang mit dumpfer Endgültigkeit.
    Ich starrte ihn an. Er saß in seiner typisch schiefen Haltung da, den Kopf gesenkt, mit leblosen Armen.
    »Wie ist er denn gestorben?«

    Kelsangs Kopf bewegte sich. Seine Stimme war bedächtig, tonlos.
    »Ich weiß es nicht.«
    »Ja, aber wann denn?«
    »Als er mit Sonam auf der Flucht war, anscheinend. Die näheren Umstände kenne ich nicht.«
    »Aber Alo hat sie doch gerettet!«
    »Das sagt sie jedenfalls.«
    »Und sonst weißt du nichts?«
    Er hob die mageren Schultern. Er sah immer aus wie jemand, der mit aller Gewissenhaftigkeit Dinge sucht, die wesentlich für ihn sind, die er nicht findet und vielleicht niemals finden wird.
    »Du kennst sie ja. Sie bewahrt ihre Geheimnisse.«
    »So lange? Ich möchte gern ein wenig verstehen …«
    Er richtete sich mit unbeholfenen Bewegungen auf.
    »Man kann auch zu weit gehen, Dolkar.«
    »Da hast du vielleicht recht.«
    Ich sah, wie heftig sein Zwerchfell arbeitete, und hatte ein schlechtes Gewissen. Niemand sollte auf diese Weise ein anderes Wesen bedrängen, durch neugierige Fragen oder durch Vorwürfe erpressen. Ich hatte mich nicht mit Andeutungen zufrieden gegeben, war auf ihn eingestürmt, hatte kalt mit angesehen, wie er beim Reden Höllenqualen leiden musste. Die Pein einer alten Hölle,

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