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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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»Naga«-Gottheiten. Aber kein Foto, bitte, hier nicht! Katrin, die Thuner Lehrerin, befingerte frustriert ihre teuren Objektive.
    »Alles, was wirklich interessant ist, darf man nicht fotografieren!«
    Frau Chang schaltete höflich ihr Mikrofon aus, gab mit wohlklingender Stimme Erklärungen.
    »Der Jokhang wurde im siebten Jahrhundert vom großen tibetischen Herrscher Songsen Gampo erbaut, der eine chinesische Prinzessin zur Gemahlin hatte. Das hohe Alter des Heiligtums erklärt, warum nur einige Statuen noch vorhanden sind.«
    Man hatte Frau Chang gelehrt, die Missetaten der Roten Garden wohl tadelnd zu erwähnen, die chinesische Regierung jedoch mit keinem Wort zu kritisieren. Im Gegenteil: China hatte die Kunstwerke bewahrt, beschützt und kostspielig restaurieren
lassen. Gelangweilt ließ ich meine Blicke umherwandern. In dem abgesperrten Andachtsraum, von seltsamen Lichtreflexen erhellt, erhob sich die Statue des indischen Magiers Padmasambhava - »Der aus dem Lotos Geborene«, von den Tibetern »Guru-Rimpoche« genannt. Gleich daneben belächelte der Buddha Matreya in seiner Erscheinung als Bodhisattva mild die menschliche Torheit. Die gewaltige Statue im Hintergrund, Jobo Shakyamuni, war nur in Umrissen sichtbar; sie stand in einem gesonderten Schreinraum, mit einem abschreckenden Kettenvorhang versehen.
    Wir waren hier nicht allein. Andere Gruppen zogen vorbei, Hunderte von halblauten Stimmen, Hunderte von Schritten mischten sich in den Hallen zu fernen, richtungslosen Geräuschen. Und gleichzeitig stieg ein dichter Summton zu den Wölbungen auf, sank im Halbdunkel wieder auf die Menschen herab. Mönche waren bei der Andacht. Auf sonderbare Weise erinnerten mich ihre Stimmen an das dunkle Zirpen der Zikaden, die in Mondnächten im Süden Europas erklangen. Sanken die Stimmen, verwandelten sich die Gebete in tiefes Brummen, das man im Boden unter den Füßen spürte. Hängetrommeln und Zimbeln folgten dem Rhythmus und verstärkten ihn. Auf Zehenspitzen traten wir näher. Die Mönche kauerten wie kleine rote Zelte im Halbdunkel. Kerzen aus Pflanzenfett brannten, fruchtig duftender Rauch hing wie blauer Nebel in der Luft. Vor der Gebetshalle häuften sich ausgetretene Schuhe und Sandalen; ein paar Novizen kauerten abseits, magere kleine Gestalten, die den geschorenen Kopf einzogen und uns argwöhnische Blicke zuwarfen. Ich überhörte Frau Changs Erklärungen, brachte kein Interesse dafür auf, nicht das geringste. Das Heiligtum erschien mir wie ein Raum, in dem man sich zu längst vergessenen Zwecken versammelte. Ich drehte mich ab, als unsere Gruppe weiterging, lauschte auf die Gebete der Mönche, auf das unermüdliche leise Klicken ihrer »Malas« - ihrer Gebetsschnüre. Sehnsucht
nach vergangenen Zeiten. Eskapismus. Traurigkeit. Das hier war kein Heiligtum mehr, nur ein Museum, doch der Glaube schlich auf langen Umwegen zurück. Diese Mönche beteten wirklich.
    Frau Chang winkte mir etwas ungehalten zu: Ich sollte mich nicht absondern. Sie bewegte sich mit schnellen, zielstrebigen Schritten, den Kopf etwas gesenkt, ihre schwarzen Zöpfe baumelten auf den Rücken. Was erlebte sie hier? Etwas, das zu ihr sprach, sie berührte? Oder hatte sie Gedanken, die mit diesem Ort wenig zu tun hatten? Oder empfand sie nichts?
    Wieder draußen, gab Frau Chang das Programm durch. Wir würden jetzt zu Mittag essen und danach den Barkhor, den Marktplatz, besichtigen. Wir hätten dabei Gelegenheit, Kunsthandwerk und Schmuck zu kaufen. Das würde uns recht müde machen, meinte sie lachend, hier gäbe es nämlich viele schöne Sachen. Und heute Abend im Hotel erwarte uns ein »Willkommensessen« mit tibetischer Volksmusik und Volkstänzen. Und morgen würden wir den Potala besuchen.
    Nach dem viel zu scharf gewürzten Mittagessen, das wir in einer chinesischen Imbissstube einnahmen, ging ich zu Frau Chang und erklärte ihr, dass ich am Abend am Bankett teilnehmen und am nächsten Tag auch den Potala besichtigen wolle, dass ich aber eine Verwandte in Lhasa hatte, die ich heute gern besuchen würde. Eine alte Tante. Ich musste sehen, ob die Adresse noch stimmte. Und, keine Sorge, ich würde zum Hotel schon zurückfinden. Ich konnte mich ja durchfragen. Mein Tibetisch war zwar nicht mehr zeitgemäß, aber immerhin brachte ich noch ein paar verständliche Sätze zustande. Frau Chang machte ein besorgtes Gesicht. Die Sache gefiel ihr nicht. Einer ihrer Schützlinge sprang blökend aus der Reihe.
    »Wir essen um sieben«, sagte sie

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