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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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leisen Stimme: »Du bist nicht von hier, meine Tochter?«
    Fast erschrak ich, als er das Wort an mich richtete. Ich wollte antworten: Doch, hier bin ich schon gewesen, in einer anderen Zeit, in einem anderen Leben. Und jetzt bin ich sehr traurig, wollte ich sagen, denn nichts passt zusammen. Doch stattdessen hörte ich mich antworten: »Nein, Meister, ich bin mit einer Reisegruppe gekommen.«
    »Und wo sind deine Begleiter?«
    »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sie kaufen ein.«
    Ich deutete mit einer unbestimmten Geste zum Marktplatz. Ein Schimmer von Ironie leuchtete in seinen Augen, die dunkelblau und etwas verschwommen waren, wie die Augen der Neugeborenen.
    »Und du hast mich etwas zu fragen?«
    Mein Mund wurde trocken. Ich trat, um mir Mut zu machen, zwei Schritte näher.
    »Ja … Warum beten Sie die Mauer an?«
    Der Mönch wölbte die Hände, sodass sich die Finger berührten.
    »Weißt du, was dieses Zeichen bedeutet?«
    Ich schüttelte deprimiert den Kopf. Nichts. Ich wusste nichts. Sogar die heiligen Gesten des Buddhismus waren mir fremd. Nicht dass die Exil-Tibeter sie vergessen hätten. Es war nur so, dass ich mich nie damit befasst hatte. Doch der Mönch störte sich nicht an meiner Unwissenheit, sondern lächelte heiter.

    »Das Zeichen bedeutet ›Schatzkästchen‹ und macht sichtbar, dass ich Buddha als Schatz mit mir trage. Wenn ich dir mein Schatzkästchen schenke, kannst du Buddha mit dir in das Land nehmen, aus dem du kommst.«
    Ich dachte, dieser Mönch muss einen sehr starken Willen haben. Das Gebet vor der Mauer zeigte das Maß seines Willens.
    Er sah mich unentwegt an, mit einem fast zärtlichen Blick. Ich fragte mich, womit ich diesen gütigen Blick verdient hatte, wo ich mir doch so läppisch vorkam.
    »Wenn du das bezweifelst, liegst du völlig falsch«, sagte er mit vollkommen sachlicher Stimme.
    Darauf wusste ich keine Antwort. Dieser Mensch gehörte zu den seltsamsten, die mir je begegnet waren. Inzwischen nahm er mit ehrfürchtigen Gesten die kleine Lampe wieder an sich. Das Flämmchen war fast heruntergebrannt. Er löschte es mit Daumen und Zeigefinger, wickelte die Lampe in ein fettiges Stück Stoff und verstaute sie in seiner Umhängetasche, bevor er sich wieder mir zuwandte.
    »Einst stand hier eine Statue des ›Matreya‹, des Buddhas der neuen Welt. Er trägt diesen Namen, weil es von ihm heißt, dass er am Ende eines bösen Zeitalters käme, um die Welt zu erleuchten. Der Matreya ist der versteckte Buddha, der Buddha der Zukunft. Er stand seit fünf Jahrhunderten in dieser Nische. Dann kamen die Roten Garden und zerschlugen ihn. Ich sah zu, wie sie ihn zerstückelten, Stein um Stein. Sie wussten nicht, dass man den versteckten Buddha nicht zerstören kann. Der Buddha ist immer noch hier. Ich sehe ihn.«
    Ich blickte zur Mauer und sah dann den Mönch fragend an.
    Er bemerkte meinen Blick und lächelte abermals, diesmal mit sanftem Spott.
    »Nun, meine Tochter, um ihn zu sehen, bedarf es mehr als
nur der Augen. Es bedarf einer tiefen Ausgeglichenheit, eines Zustands der Meditation. Während du betest, rufst du dir jede Einzelheit der Statue in Erinnerung. Du kennst sie ja gut, wenn du täglich vor ihr gebetet hast. Und dann dauert es nicht lange, bis der vollständige Buddha vor deinen Augen ersteht. Es ist, erlaube mir diesen Vergleich, als ob die Sonne eine Linse bescheint und ihre Strahlen sich in ein und demselben Punkt sammeln. Bald glüht dieser Punkt und fängt Feuer. Genauso verhält es sich mit dem menschlichen Geist. Du kannst Wunder bewirken, wenn du deinen Geist nur auf einen einzigen, immer gleichen Gegenstand richtest. Hast du es niemals versucht?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Das hört sich schwierig an.«
    Seine welken Lippen kräuselten sich.
    »Ach, sollte es denn leicht sein?«
    Ich wurde ein wenig rot.
    »Na ja, ich nehme an, ich muss Geduld haben.«
    Er ließ eine Art amüsiertes Glucksen hören.
    »Geduld ist für uns alle wesentlich, da darfst du nicht lockerlassen. Du wirst sehen, allmählich schärft sich dein Gedächtnis. Und auf einmal kommt die Zeit, da du es schaffst. Auf einmal hast du Buddha vollständig in der Erinnerung, eine perfekte Wiedergabe, in deine Netzhaut eingeprägt. Am Anfang nicht lange, das wäre ja zu viel verlangt. Ein paar Atemzüge nur, und weg ist er. Aber nach und nach verweilt er länger, und am Ende geschieht es ganz mühelos. Du kannst Buddha in dir entstehen lassen, wann du willst, du trägst ihn ja in dir, in dem

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