Das Haus der Tibeterin
aggressiver und zwangen 1988 die Zentralregierung sogar dazu, das Kriegsrecht auszurufen. Aber die Sache mit Alos Tochter - sie hieß Tseyang - geschah schon ein paar Jahre vorher. Sie hatte eine selbstgebastelte Bombe auf unser neues Telekommunikationsgebäude geworfen. Stell dir mal vor, sie war kaum siebzehn. Bei ihrem Verhör gestand sie, dass sie ihren Geliebten rächen wollte, der bei einem Aufstand ums Leben gekommen war.«
»Bei ihrem Verhör?«, murmelte ich.
»Ja, natürlich. Sie wurde in Drapchi eingeliefert.«
Mir wurde übel.
»War das nicht dieses entsetzliche Gefängnis?«
»Was heißt entsetzlich?«, entgegnete sie. »Alle Gefängnisse waren gleich.«
»Wurde sie gefoltert?«
Lhamos Gesicht blieb ungerührt.
»Die Repression wurde verschärft, weil die Unruhen ja so große Ausmaße annahmen. Chi sprach nicht mit mir darüber. Er wusste, dass ich solche Dinge nicht gern hörte. Jedenfalls starb Tseyang an Herzversagen. So was kam vor, weil … nun, weil man bei unkooperativen Gefangenen elektrische Viehtreiberschlagstöcke benutzte. Außerdem war sie schwanger und im Gefängnis von einem Sohn entbunden worden. Für gewöhnlich gab man solchen Babys sofort eine Spritze. Aber ich hatte gerade meine Fehlgeburt gehabt. Damit ich über die schlechte Zeit hinwegkam, überließ Chi mir das Baby. Er warnte mich allerdings: Sobald das Baby aus dem ersten Pflegealter heraus war, mussten wir es in einem Waisenhaus abgeben. Ich kümmerte mich also um den Säugling, und tatsächlich besserte sich mein Zustand. Der Kleine war hübsch und klug. Der Gedanke, dass er in einem Waisenhaus aufwachsen sollte, machte mir das Herz schwer. Chi mochte den Kleinen
zwar auch, hatte aber nicht im Sinn, sich dem Beschluss der Behörden zu widersetzen. Ich jedoch wollte dem Baby eine Chance geben, richtige Eltern zu finden, und handelte zum ersten Mal hinter Chis Rücken. Es gab in Lhasa eine kleine Vertretung des Roten Kreuzes, die 1988 übrigens geschlossen wurde. Na gut. Ich ging zu einer indischen Schwester, die dort arbeitete, und übergab ihr das Kind mit der Bitte, es zur Adoption freizugeben. Die Schwester versprach, sich um den Kleinen zu kümmern. Sie hielt Wort, und das Baby kam nach Dharamsala, wo es dann auch bald Pflegeeltern fand. Schweizer, wie mir später gesagt wurde.«
Ich traute meinen Ohren nicht.
»Dann ist Tseyangs Sohn jetzt in der Schweiz?«
»Ich nehme es an. Ich weiß es nicht. Er ist ja längst erwachsen.«
»Kennt Sonam die Geschichte?«
»Nein, woher auch? Es ging sie doch nichts an. Chi war damals sehr böse auf mich, weil ich sein Vertrauen missbraucht hatte. Er musste natürlich Meldung machen. Ich wurde im Justizministerium vorgeladen und bekam einen Verweis. Damit war die Sache erledigt. Chi und ich versöhnten uns wieder. Ich kann sagen, dass ich wirklich Glück gehabt habe.«
Was Lhamo da ablieferte, waren nur Tatsachen, ein dünnes Mindestmaß an Informationen. Sie kehrte ihre seelische Minusseite heraus, verlor aber nur wenige Worte über die furchtbare Tragödie, die sich hinter Gefängnismauern abgespielt hatte. Lhamos Mangel an Gefühlen schien mir nicht ganz echt. Sie lebte ihren Schmerz nicht aus, sie verdrängte ihn; ihr Leid durfte nicht nach außen sichtbar werden. Ich hatte Mitleid mit ihr. Lhamo hatte fünfzig Jahre in der Hölle verbracht und sich am Ende offenbar eingeredet, dass sie freiwillig dort sitzen wollte. Gab es in ihr einen noch so winzigen Ort, den die Partei nicht durchdrungen hatte, an dem ihr ursprüngliches
Wesen noch leuchtete? Besser wenig als gar nichts. Ich wollte daran glauben.
Doch vorerst gab es andere Fragen, die ich klären wollte.
»Haben wir noch Verwandte hier?«
Sie benetzte ihre Lippen, entzog ihr Gesicht meinem Blick, indem sie zur anderen Seite schaute.
»Nein. Alle sind geflohen. Oder tot.«
Das Ausmaß ihrer Einsamkeit war im Zimmer spürbar wie eine Staubschicht. Und es war eine sehr schlechte Einsamkeit, kalt und schrecklich, ein ohnmächtiges Warten auf das Alter, ganz allein. Sie wusste, dass es kein Entrinnen für sie gab, außer in den Tod. »Und unser Haus? Wurde es schwer beschädigt?«
»Unser Haus?« Sie hob die Brauen, als hätte ich eine ungehörige Frage gestellt. »Das Haus steht doch schon lange nicht mehr!«
Also doch. Ich hatte alles gewusst, was ich wissen musste, hatte alles, was dazugehörte, erfahren, und mir trotzdem immer wieder etwas vorgemacht. Das Haus hätte sozusagen auf mich warten sollen. Und jetzt
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