Das Haus der Tibeterin
umso unfassbarer, als er ja nicht einem Menschen galt, sondern einem Haus. Lhamo indessen sprach weiter, mit seltsam schleppender Stimme, als ob sie laut ihren Erinnerungen nachhing. Und als ich zu ihr aufblickte, sah ich voller Überraschung ihre geröteten Augen.
»Wir Kinder waren fast immer draußen im Garten. Manchmal standen die Fenster offen, und mein Vater spielte die Dran-nye und sang. Er hatte eine wunderschöne Stimme, musst du wissen. Ich sehe noch, wie die Dienstboten ihre lachenden Gesichter hoben und im Takt mit den Händen klatschten. Wir steckten uns Gänseblümchen hinter die Ohren, tanzten ausgelassen und glücklich umher. Und abends, wenn wir uns müde vom Spielen unter die weiche, warme Decke kuschelten, kam Mutter. War sie irgendwo eingeladen, trug sie Kleider aus schillernder Seide und Brokat. Sie wünschte uns schöne Träume und küsste uns. Die Türkise in ihren Zöpfen klirrten wie kleine Glöckchen. Ich rieche sogar noch ihren Duft. Jasminblüten. Sie ließ das Parfüm für sich in Indien mischen und brachte mir manchmal ein Fläschchen mit. Du siehst, ich entsinne mich an alles. Und es spielt keine Rolle, dass ich alt bin, viel Schlimmes erlebt habe und mein Leben bald vorbei sein wird.«
Sie verstummte. Ihr Gesicht war voller Schatten, die kamen und gingen, wie Wolken über das bleiche Antlitz des Mondes. Ja, man sah es jetzt, wie schön sie einst gewesen war. Eine Weile herrschte Stille bei uns, das endlose Nachklingen von Lhamos Worten. Auf einmal schlug draußen eine Tür zu, Absätze klapperten. Lhamo zuckte leicht zusammen, als führe sie aus dem Schlaf hoch. Der Glanz auf ihrem Gesicht war weg, einfach weg, wie der Kreidestrich weg ist, wenn man die Tafel abgewischt hat. Schon wurde im Raum nebenan der Fernseher eingeschaltet, eine Frauenstimme sprach. Es gab keinen Zauber mehr und keine Erinnerung, die sich zu beweinen lohnte.
Vor meinem inneren Auge riss sich das Haus der Weiden vom Erdboden los, entfaltete seine Wände wie Schwingen, hob sich in aller Stille zum Himmel empor, jenem unbekannten Kern der Vergangenheit entgegen, wo nichts ist und alles wiedergeboren wird.
Ich legte die Aufnahme, die ich noch in den Händen hielt, zurück auf den Tisch, griff nach Jacke und Rucksack.
»Ich muss gehen. Frau Chang wird nervös, wenn ich nicht pünktlich zum Abendessen komme.«
Lhamo sah mich fragend an. Ich nickte ihr zu.
»Unsere Fremdenführerin.«
Sie rückte ihre Brille zurecht, strich ihr Haar hinter die Ohren. Ihre dünne Hand zitterte leicht.
»Ach so, ja, natürlich.«
Ich schlüpfte in meine Jacke.
»Das war nett von dir, dass du mir das Foto gezeigt hast.«
Sie richtete sich steif auf.
»Bleibst du noch lange in Lhasa?«
»Nur bis morgen. Wir besichtigen noch ein paar Klöster, Sera, Drepung, Ganden. Das Übliche. Die Maschine geht in zwei Tagen.«
Sie schwieg. Man muss einander ansehen, wenn man sich verabschiedet. Stattdessen kehrten meine Augen immer wieder zu der Aufnahme zurück. Ich wollte mir das Bild ganz fest einprägen, bevor ich ging.
»Du kannst es mitnehmen, wenn du willst«, hörte ich Lhamo sagen.
Ich starrte sie fassungslos an. Eine Spur von Unsicherheit zuckte um ihren Mund.
»Willst du es nicht haben?«
»Aber Tante Lhamo!«, stieß ich hervor. »Du hast doch kein anderes mehr!«
Sie sah mir zum ersten Mal voll ins Gesicht.
»Mir ist das jetzt alles egal. Und es mag ja stimmen, dass
ich Sonam auf dem Gewissen habe. Mehr noch als Kelsang. Er hatte ein großes Durcheinander im Kopf. Ich zumindest sah klar …«
»Ach, Tante Lhamo«, flüsterte ich, »denk doch nicht immer wieder daran!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich … ich habe ihr manchmal den Tod gewünscht! Sie war wie ein aufgeplusterter Vogel, schrecklich anzusehen, hartnäckig, beleidigend. Als ich ihr einmal sagte, ich wollte lieber überleben als erschossen werden, da hat sie mich angestarrt mit ihren großen, wilden Augen. Und dann hat sie gelacht! Und wie sie lachte! Ich höre sie heute noch. Und als sie wieder zu Atem kam, da hat sie gesagt: ›Sie werden dich gleich nach mir erschießen!‹«
Sie verschränkte fröstelnd die Arme.
»Und jetzt geh, sonst muss ich mir Sorgen machen. Und vergiss das Bild nicht.«
Sie stand mitten im Zimmer, steif, leicht vornübergebeugt. Ich nahm behutsam das Foto vom Tisch, steckte es in die Brieftasche, die ich im Innenfach meiner Jacke trug und in der auch meine Papiere waren.
»Ich danke dir, Tante Lhamo.«
»Das sagt man bei uns
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