Das Haus der Tibeterin
war das Haus nicht mehr da, und ich fühlte mich betrogen und geschädigt.
»Wann wurde es zerstört?«, fragte ich und spürte, wie unsicher meine Stimme klang.
»1986, im Juli, wenn ich mich recht entsinne. Die Roten Garden hatten es eine Zeit lang als Gefängnis gebraucht, mehrere hundert Leute darin zusammengepfercht. Dann wurde es zu einer Schule umgebaut. Als später mehr Beamte nach Lhasa kamen, brauchte man Platz für Büroräume. Das Haus stand in einer guten Lage. Man ließ es abreißen und baute auf dem Grundstück ein neues. Heute ist das Ministerium für Landwirtschaft darin untergebracht.«
Ich reagierte einfältig antirevolutionär.
»Warum hast du das zugelassen?«
Ihre Stimme bekam eine schneidende Kälte.
»Gegen Beschlüsse von oben wurde keine Rebellion geduldet. Kannst du das nicht begreifen?«
Ich bin wie Sonam, hätte ich am liebsten geantwortet. Es gibt eben Dinge, die mir nicht in den Schädel gehen. Stattdessen sagte ich:
»Ich bin traurig, dass das Haus nicht mehr steht.«
»Warte«, erwiderte Lhamo. »Ich will dir etwas zeigen.«
Sie erhob sich; es war eine Steifheit in ihren Bewegungen, die nicht nur von den Gelenken herrührte. Sie kniete umständlich nieder, schlug die Decke auf der Schlafbank zur Seite und zog einen kleinen Koffer hervor, der mit Riemen geschlossen war. Lhamo löste die Riemen, ließ die Verschlüsse aufspringen und öffnete den Koffer, aus dem ein starker Geruch nach Mottenkugeln strömte. Der Koffer war voller ausrangierter Sachen, Kleidungsstücken und Wollsocken. Ich sah ein leeres Brillenetui, einen alten Vorhangstoff mit verblichenem Muster, alles zerknittert und muffig. In dem Plunder befand sich eine kleine Schreibkladde, wie man sie früher im Schulunterricht benutzt hatte. Lhamo löste mit ungeschickten Fingern das Band. Die Kladde enthielt eine Anzahl vergilbter Briefe, eingebundene Schulhefte und dazwischen ein Foto, eine alte Vergrößerung. Lhamo nahm das Bild heraus und fuhr leicht mit den Fingern darüber, als ob sie es streichelte. Sie legte das Foto neben sich auf den Boden, bevor sie den Koffer schloss und ihn unter die Sofabank schob. Dann richtete sie sich wieder auf, wobei sie das Bild auf seltsame Art in beiden Händen hielt. Wie eine Opfergabe, ging es mir durch den Kopf - ein Gedanke, der natürlich unsinnig war. Inzwischen zog Lhamo die Decken gerade, setzte sich wieder in weitem Abstand zu mir hin und überreichte mir die Aufnahme mit der gleichen, unerwartet ehrfürchtigen Geste.
»Unser Haus«, sagte sie.
Das Bild war bräunlich verfärbt, wie alte Fotos es ja sind, aber durchaus nicht unscharf. Das dreistöckige Haus mit
Türmchen und Fensterfront, der gepflasterte Hof und das eisenbeschlagene Tor waren detailliert zu erkennen. Ich konnte sogar den Steinsockel zum Besteigen der Pferde sehen. Daneben stand ein Stallbursche in einem Mantel aus Schafsfell und hielt ein Pferd am Zügel. Die Grobkörnigkeit des Fotos verwandelte das Haus in ein Geisterhaus, die Steine in bleiche Knochen. Dabei zeigten der Stallknecht und das Pferd, leblos und wie in der Luft aufgehängt, eine bizarre Ähnlichkeit mit den Skulpturen von Giacometti. Ich schluckte schwer. Das Haus der Weiden gab es nicht mehr, meine Seele war heimatlos. Ich musste mich mit dem Verlust eines Hauses abfinden, das ich nie betreten hatte, das ich aber mit inneren Augen sah und als Erinnerung im Blut trug. Es gab für mich nur den einen Trost: Das Haus war unerreichbar für den Zugriff der Menschen, unerreichbar für den Zugriff der Zeit. Mit diesem Trost würde ich leben können.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Lhamo, die sagte: »Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1956. Mein Vater hatte sie mit einer Leica 111 F aufgenommen. Er besaß eine vollständige Fotoausrüstung und entwickelte selbst seine Schwarzweißfilme.«
»Und was ist aus den Fotos geworden?«, fragte ich.
»Sie wurden verbrannt, als die Volksarmee das Haus … ausräumte.«
»Du willst wohl sagen: plünderte?«
Sie machte eine gleichgültige Bewegung.
»Wie du willst. Kurzum, sie schleppten alles nach draußen, schütteten Benzin darüber und setzten das Zeug in Brand.«
»Und wo hast du das Foto gefunden?«
»Auf dem Markt, in einem Korb voller Plunder. Eine alte Frau verkaufte Sachen, die man in den Ruinen gesammelt hatte.«
Ich betrachtete die Aufnahme. Licht und Schatten hatten sich zurückgezogen, in das Bild hinein, in die Vergangenheit.
Der Schmerz, der mich dabei erfüllte, war
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