Das Haus der Tibeterin
Abgeschlossenheit, in der ihr Geist gefangen war, widerte mich an. Sie flößte mir bestenfalls ein ablehnendes Mitleid ein. Jetzt begriff ich, dass scharfe Intelligenz und feine Empfindsamkeit ihr Seelenqual
verursachten. Denn ohne ihre Pflege wäre Sonam an ihren furchtbaren Verletzungen gestorben, und ohne ihre Tapferkeit hätte der kleine Kanam eine erbärmliche Kindheit erlebt, ein Dasein in Unwissenheit und Vernachlässigung. Sie hatte ihn vor lebenslanger Schande bewahrt, denn die Kinder von Terroristen wurden als Menschen zweiter Klasse herabgesetzt und gedemütigt. Und endlich hatte sich Lhamo von ihrem einzigen Kleinod getrennt, damit ich etwas von ihr bekam, das wichtig für mich war.
Dass ich weinte, merkte ich erst, als mein Gesicht nass wurde und meine Haut noch mehr spannte. Ich durchwühlte meine Sachen nach einem Taschentuch, fand natürlich keins und wischte mir mit dem Ärmel über die Nase, während der Mönch gelassen weitersprach.
»Lhamo glaubte eigentlich nicht, dass du kommen würdest. Und doch hat sie sich einen freien Nachmittag genommen und auf dich gewartet. Und du hast sie besucht.«
Ich wollte antworten, doch er sprach weiter: »Nein, hör mir zu. Du hast dich zu ihr gesetzt, ihre Einsamkeit getilgt, ihre Gewissensqualen erleichtert. Und du hast noch viel mehr getan: Du hast sie in jene Zeit zurückversetzt, als sie ein glückliches junges Mädchen in einem glücklichen Haus war. Jeder Augenblick deiner Anwesenheit war für sie ein unermesslicher Trost.«
Er sprach weiter, mit eigentümlich weicher Stimme. Sein altes, ganz unwirkliches Gesicht glomm so weiß, als strahlte er im Dunkeln einen eigenen schwachen Schimmer aus.
»Glaub mir, meine Tochter, du hast Lhamo das größte aller Geschenke gemacht: Du hast sie ›Tante‹ genannt und sie wieder in die Familie aufgenommen, in die Gemeinschaft. Lhamo ist jetzt glücklich, soweit sie glücklich sein kann. Ihr Leben hat wieder einen Sinn. Sie kann sich zurückerinnern, ohne sich ihrer selbst zu schämen. Das Haus ihrer verlorenen Kindheit ist in ihr, in ihrem Herzen. Sie trennte sich von dem Bild, weil sie spürte, dass du es mehr brauchtest als sie.«
Ich sah in sein fein gemeißeltes Gesicht und verstand ihn nicht ganz. Doch seine Augen, die sogar in der Nacht ihren hellen Schimmer bewahrten, ließen mich nicht los; es war, als ob dieser Blick mich ganz sanft umfasste. Seine Stimme klang dabei leise und eindringlich, und doch vollkommen aus der Menschenwelt.
»Du suchst das Haus, das für dich den Anfang bedeutet, den inneren Kern, den Traum deiner blinden Unschuld. Das Haus steht nicht mehr, und du bist traurig. Nun, dein Verständnis von der Welt ist vielleicht nicht ganz richtig. Du fragtest mich: ›Warum beten Sie vor einer Mauer?‹, und ich antwortete: ›Weil einst hier der Matreya stand und ich ihn sehe, wenn das Flämmchen brennt.‹
Höre und vergiss es nicht, und ich will dir ein Geheimnis mitteilen. Die Dinge, an denen dein Herz hängt, kommen wieder! Betrachte das Bild, präge dir jede Einzelheit ein. Der Mensch ist Schöpfer seiner eigenen Bilder. Du kannst die Welt neu gestalten, du musst es nur wollen. Es hat viel Sinn, darüber nachzudenken. Du glaubst, das Haus steht nicht mehr? Nun denn, baue es auf, mach es vor deinen eigenen Augen sichtbar. Du trägst es in deinem Schatzkästchen; ich habe dich die richtige Handhaltung gelehrt. Werde wie die Spinne, die ihr Netz in der Luft webt. Denn was ist das Netz, wenn nicht das Haus der Spinne?«
Ein letzter Funke glühte auf den höchsten Dächern des Potala. Dann erlosch auch dieser, und am Himmel leuchtete nur, einsam und kalt, die unmerklich wandernde Mondsichel. Unter dem schwarzen Tuch der Nacht flimmerten alle Lichter der Neustadt in aufdringlichen Tänzen. Ich war schon sehr spät dran; Frau Chang würde mich mit vorwurfsvollen Augenblitzen empfangen. Aber das war jetzt ohne Bedeutung. Ich fühlte mich zu glücklich, zu befreit, um auch nur einen Gedanken an sie zu verlieren. Das Schicksal hatte gewollt, dass Lhamo mir das Foto gab und der Mönch sozusagen die richtige
Gebrauchsanweisung. Das Haus war immer da, hier wie anderswo. Ich trug es bei mir, in meinem Schatzkästchen. Behutsam schob ich die Aufnahme in meine Brieftasche und ließ diese in meiner Jacke verschwinden. Ich verneigte mich vor dem Mönch, sehr tief, mit zusammengelegten Händen. Er umfasste zärtlich meinen Kopf, drückte seine Stirn an meine, gab mir seinen innigsten Segen. Dann ging
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