Das Haus der Tibeterin
keinen Zweifel, nur Weisheit und Willen im Streben nach oben. Es mochte sein, dass er meine Anwesenheit spürte, dass sie ein störendes Element in seinem Frieden war, denn nun bewegte er sich leicht, zog den Ärmel
seiner Robe über die bloße Schulter, bevor er mir sein Antlitz zuwandte. Dann federte er auf den Fersen zurück, erhob sich. Ein kleines Lächeln wanderte über sein Gesicht, bis zu den Augen, die auch in der Dämmerung blau wie die Augen der Säuglinge waren.
»Nun, meine Tochter, hast du gefunden, wonach dein Herz sich sehnt?«
Wusste er, dass ich Lhasa am nächsten Tag verlassen würde? Ich entsann mich nicht, es ihm gesagt zu haben. Ich trat einige Schritte näher, legte die Hände grüßend zusammen, bevor ich seine Frage beantwortete.
»Eigentlich nicht. Alles ist anders.«
Er nickte gelassen.
»Manche Dinge verändern sich eben. Aber das ist nur der äußerliche Schein. Glaubst du wirklich, wir hätten den Fremden alle Edelsteine verkauft?«
Ich verstand das Gleichnis sofort.
»Ach, können Edelsteine auch Liebe bedeuten?«
Er ging schmunzelnd auf die Kontroverse ein.
»Edelsteine können alles Mögliche bedeuten. Und ja - sogar Liebe.«
»Und Häuser?«
Seine schweren Augenbrauen zogen sich zusammen.
»So wie jedes Tier einen Unterschlupf braucht, braucht der Mensch ein Haus, wenn die Hitze brennt oder die Winterstürme toben.«
Ich schluckte und sagte: »Ich kam nach Lhasa und suchte mein Haus.«
Er neigte bejahend den Kopf.
»Das hast du mir gesagt. Aber du hast es nicht gefunden. Nicht so, wie du es dir vorgestellt hast.«
»Ich habe erfahren, dass es zerstört wurde.«
Er antwortete ernst und gleichmütig.
»Ja, meine Tochter.«
Ich fuhr mit der Zunge über die spröden Lippen. In Lhasa war die Luft sehr trocken, meine Haut spannte und juckte, sodass ich mich ständig eincremen musste.
»Sie haben gesagt, dass Sie wüssten, wo es gestanden hat.«
»Und du möchtest, dass ich dir den Ort zeige?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht …«
Er ging auf den Mauersims zu und löschte die Flamme mit einer behutsamen Bewegung seiner Finger, als ob er eine Blume pflückte. Dann verstaute er Lampe und Weihrauchstäbchen in seiner Schultertasche.
»Komm!«, sagte er.
Ich folgte ihm, passte mich seinen langsamen, etwas unsicheren Schritten an. Es war wieder viel Gedränge in den Straßen, doch er ging unbeirrt weiter, etwas vorgebeugt; die eine Hand hielt die geflochtene Schnur seiner Tasche auf der Schulter fest. Die Sonne schimmerte noch hinter den Bergen, die im Schatten lagen; die Mauern des Potala strahlten einen rosa Schein aus, eine delikate Blütenfarbe, und darüber schien klar eine Mondsichel mit fast aufdringlichem Glanz. Die klare Luft ließ auf den vergoldeten Dächern ein Flimmern von roten Wellen spielen, die seltsam lebendig hin und her zuckten. Und auf einmal hatte ich ein ganz merkwürdiges Gefühl. Als ob überall dort, wohin der Mönch seine Schritte lenkte, die Welt sich verwandelte, als ob ein Zauberreich seine unsichtbaren Pforten vor mir öffnete. Am Barkhor, wo die nummerierten blauen Blechstände abgeräumt wurden, strömten von allen Seiten Menschen herbei. Das letzte Abendlicht legte einen Glanz auf alle Dinge, eine wohltuende, gedämpfte Helligkeit, kaum stärker gefärbt als die zartfarbige Safran-Blüte, zauberte Goldreflexe auf Kleider und Gesichter, auf Strohmatten, Töpfe und Porzellangeschirr. Es roch nach gebratenem Fleisch und nach Getreidebier, das stark und süß duftete. Alte Frauen boten Obst, Walnüsse und Gemüse feil. Andere Händler verkauften Milch und Joghurt und Yakdung für die Heizöfen. Die Reiternomaden
wanderten mit steifen, stolzen Schritten umher, das schwarze Haar mit roten Garnen um den Kopf gewickelt und verknotet. Die Frauen hatten ihr fersenlanges Haar in hundertundacht kleine Flechten gezwängt - die heilige Zahl der buddhistischen Lehre. Ihre Augen waren schmal und lang, scharf geschnitten, ihre Gesichter leuchteten wie Münzen, und eine jede trug den Schmuck einer Königin. Keine Frau, kein Mann zeigte sich ohne sein Amulettkästchen aus schwerem Silber. Grasgrüne oder gelbe Borten schmückten ihre Gewänder; sie trugen aufwendig bestickte Stiefel und wertvolle Fellumhänge. Sie waren schön und stolz, wie Naturmenschen es sind, denn sie lebten in den Bergen, in der Nähe der Götter. Doch die Luft verlor langsam ihren Glanz, Finsternis wuchs von allen Seiten empor, misstönende Akkorde erklangen. Ich blinzelte
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