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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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verstört, und die Vision verschwand. Die Menschen, die Gesichter, alles war plötzlich anders. Ich schaute mich verwirrt um. Die Nomaden waren verschwunden, wie aufgelöst in der Nacht. Nun legten die fliegenden Händler kitschigen Synthetikschmuck made in Taiwan oder Nepal, Kassettenrekorder und minderwertige Lederwaren auf Plastikplanen aus. Der Mönch indessen ging unbeirrt weiter, tastete erst mit seinen Füßen vor und hob dann das Bein bei jedem Schritt im Kniegelenk etwas an. Das Pflaster war uneben, und er wollte nicht fallen. Unvermittelt blieb er stehen. Ich trat an seine Seite, und er streckte den Arm aus.
    »Dort«, sagte er.
    Ich wunderte mich, dass mein Herz so heftig schlug. Doch was ich vor mir sah, war nur ein vierstöckiger Betonkasten, platt und ein vages Licht reflektierend. Hinter den Scheiben, unter grünlichen Neonröhren, sah man das Flimmern von Bildschirmen und dunkle Gestalten, die sich bewegten. Vor dem Eingang hatte man eine Verkehrsstraße gezogen. Scheinwerfer kamen wie springende Lichtflecken heran, hinterließen Blendungen, wenn sie vorüber waren.

    Als wiche mir das warme Blut aus den Adern, fühlte ich mich geschwächt und in dumpfer Traurigkeit gefangen. Einst stand hier ein Haus der Schönheit und der guten, schützenden Geister. Fromme, liebenswerte Menschen lebten dort. Sie wurden vertrieben, und das Haus - mein Haus - war tot.
    Mit unsicheren Händen zog ich meine Brieftasche hervor, entnahm ihr das alte Foto und hielt es dem Mönch hin. Er nahm es mit der gleichen ehrfürchtigen Geste, die auch Lhamo gezeigt hatte, und drehte sich leicht von mir weg, damit er die Aufnahme in der Straßenbeleuchtung besser sehen konnte.
    Nach längerem Schweigen wandte er sich wieder mir zu.
    »Wer gab dir dieses Bild?«
    »Tante Lhamo. Ich habe sie heute besucht. Sie war fünf Jahre lang in einem Umerziehungslager und machte gemeinsame Sache mit den Chinesen.«
    Der Mönch nickte ruhig.
    »Sie hat den Kommissar Huang Chi geheiratet«, sagte er und wusste also alles.
    Der Mond stieg höher, zog eine silberne Bahn. Mein Kopf schmerzte ununterbrochen. Das Höhenklima bekam mir nicht.
    »Ja«, sagte ich wütend. Ich versuchte sie zu verstehen, entdeckte aber bei ihr im Nachhinein so viel Doppeldeutigkeit! Sie hatte es anscheinend selbst nicht gemerkt, aber jedes Wort, das sie gesprochen hatte, war eine Rechtfertigung gewesen.
    »Sie hat Furchtbares erlebt und versucht, dabei ein Mensch zu bleiben«, erwiderte der Mönch sanft. »Wir sollten lernen zu verzeihen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann!«
    »Und warum nicht, meine Tochter?«
    Ich erzählte von Sonam, von Kelsang, und auch von Tseyang und ihrem kleinen Sohn. Ich redete und redete, alle Worte kamen mir flach und hohl vor, und ich zitterte dabei am ganzen Körper. Der Mönch betrachtete mich still, sodass ich eigentlich nicht wusste, woran ich mit ihm war und ob er überhaupt
richtig zuhörte, bis endlich ein tiefer Seufzer aus seiner Brust stieg.
    »Bist du sicher, dass sie nicht entsetzlich dabei gelitten hat?«
    Ich sagte mit sehr, sehr leiser Stimme: »Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie die Hölle erlebte.«
    Er neigte den schmalen Kopf.
    »Sie erlebte die Hölle, meine Tochter, und straft sich selbst, indem sie es zulässt, in Einsamkeit zu altern. Doch der Schmerz ist immer mit Erleuchtung verbunden. Wenn die Schuld bezahlt ist, sind die Götter barmherzig. Lhamos Schuld kann nicht getilgt werden, nein, nicht in diesem Leben. Kelsangs Schuld auch nicht. Und beide wissen es. Aber ihre Seele heilt und entfaltet sich, einer Lotosblüte gleich, deren Wurzeln aus dem Schlamm wachsen.«
    Er legte mir liebevoll die Hand auf die Schulter.
    »Du bist traurig. Das sollst du nicht sein.«
    Es war eine Feststellung, keine Frage. Ich spürte die Tränen hochsteigen, doch er stellte eine Frage, die mich ablenkte.
    »Warum, glaubst du, hat dir Lhamo eigentlich das Bild gegeben?«
    »Warum?«, wiederholte ich betreten. »Ich … habe sie nicht gefragt!«
    »Du hättest sie fragen können. Und sie hätte dir vielleicht gesagt, dass sie dir geben wollte, woran ihr Herz am meisten hing.«
    Mir stockte der Atem. Alles kam mir wieder in den Sinn, Lhamos Zögern, die respektvollen Gebärden, die behutsame Art, wie ihre Finger das Bild gestreichelt hatten. Ich war erschüttert. Da war diese Frau, von der ich so voreilig geglaubt hatte, sie wäre beschränkt und verbohrt und von höchst zweifelhaftem Moralempfinden. Die grauenhafte

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