Das Haus der Tibeterin
vorn geneigt, in der halb gebückten Haltung der Fliehenden, die stets bereit sind, in Deckung zu springen. Alo tastete unter seine Felljacke und brachte einen Feldstecher zum Vorschein. Der Feldstecher war gut und auch ziemlich teuer gewesen. Alo hatte ihn nach zäher Verhandlung einem indischen Händler abkaufen können. Er richtete den Feldstecher auf die laufende Gestalt und stellte die Schärfe richtig ein. Das Gesicht des Fliehenden wurde sichtbar. Alo entdeckte zu seinem Erstaunen, dass es sich um einen Chinesen handelte. Ein Halbwüchsiger, der die Uniform der Pioniere trug, dazu die typische Kappe mit dem roten Stern. Er lief, die Knie leicht eingeknickt, unentwegt im gleichen Rhythmus, blieb nur dann und wann kurz stehen, um sich umzuschauen. Alo fragte sich, wie lange der Junge die Geschwindigkeit wohl noch würde halten können. Mit einem Mal änderte er die Richtung, lief geradewegs auf den Berg zu, von dem aus Alo ihn beobachtete. Alo gefiel das nicht. Da hörte er weit über sich ein Geräusch, duckte sich tiefer und richtete den Feldstecher nach oben. Zu seiner Überraschung
sah er auf halber Höhe einige Wildpferde, die dort grasten. Alo hatte sie bisher nicht bemerkt, denn sie waren hinter Felsen verborgen gewesen, und der Wind kam aus einer anderen Richtung. Beim Anblick der Tiere wurde Alo schlagartig klar, dass der Chinese die Pferde vor ihm gesehen hatte und sich nur an den steilen Aufstieg gemacht hatte, um zu ihnen zu gelangen. Alo nahm den Feldstecher von den Augen und fluchte. Was ihm missfiel, war, dass der junge Pionier sich der Höhle näherte, in der Alos Vater Sprengstoff und Munition gelagert hatte. Ob der Junge davon wusste? Alo dachte nach. Für gewöhnlich waren die Pioniere lausige Reiter. Sie erschossen die Wildpferde, um sie zu essen, wobei sie immer mehr Tiere erschossen, als nötig gewesen wäre. Es machte ihnen Spaß, Tiere zu töten. Immerhin hatte dieser Junge keine sichtbare Waffe bei sich. Alo war ein Mensch, der bei den Khampakriegern eine harte Erziehung erhalten hatte. Seine Jugendjahre hatte er damit verbracht, mit seinem Vater gegen die Volksarmee zu kämpfen. Dabei waren Vorsicht und Wachsamkeit mehr als eine Tugend - sie waren die Voraussetzung dafür, dass man am Leben blieb. Nur zu oft war der Mann, der zuerst die Geduld verlor, auch derjenige, der zuerst starb. Alo musste jetzt scharf nachdenken. Er nahm sein Rauchzeug aus der Tasche und drehte sich eine indische Zigarette, eine von jener Sorte, die nach Honig schmeckte. Doch er zündete sie nicht an; das Streichholzflämmchen und der Zigarettenrauch hätten ihn verraten können. Bedauernd steckte er die Zigarette in die Tasche und setzte seine Beobachtung fort.
Alos langhaariger kleiner Wallach, der zufrieden im Unterholz graste, führte ihn zur nächsten Überlegung: Der Junge war aus dem Arbeitslager ausgerissen, hatte die Pferde gesehen und sich wohl dabei gedacht, dass er auf dem Rücken eines dieser Tiere schneller vorwärtskommen würde. Schön. Was er aber außer Acht ließ, mochte das Wesentlichste sein: Die Wildpferde waren scheu, unwillig und gefährlich. Nur nach
und nach duldeten sie die Nähe der Menschen. Der Junge fantasierte offenbar, wenn er glaubte, dass er einem dieser Wildpferde ohne Weiteres das Bein über den Rücken schwingen konnte. Alo hätte fast gelacht.
Die Zeit verging. Der Tag war still und heiß. Ein paar einsame Wolken trieben wie Baumwollflocken an dem gleißenden Himmel dahin und zeichneten vereinzelte Schatteninseln auf das Antlitz des Hochtals. Schweiß rann Alo über die Wangen und sickerte unter dem Hemd über seine Haut. Inzwischen kletterte der Junge mit erstaunlicher Beharrlichkeit weiter, ehe ihn die Müdigkeit überwältigte und er sich in den Schatten einer Felswand kauerte. Er hatte kein Wasser bei sich, nichts. Weiter oben floss eine kleine Sickerquelle, was er offenbar nicht wusste. Längere Zeit kauerte er dort, klein und verloren in der unermesslichen Weite dieser Landschaft hier oben - ein Land der Hochtäler und Gletscher, wo die einzigen Bewegungen das träge Dahinschweben der Adler und die lautlosen Schritte der grasenden Pferde waren. Erstaunlich war, dass der Pionier unweit der Herde kauerte und kein Tier ihn beachtete. Entweder saß er gegen den Wind, oder die Pferde sahen in ihm keine Gefahr, was immerhin seltsam war. Vielleicht, überlegte Alo, waren es auch keine richtigen Wildpferde, sondern Tiere, die bei den vielen Kämpfen in den Dörfern die
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