Das Haus der Tibeterin
verstummte erneut, entrückt in irgendwelche Erinnerungen an irgendeine fremde Zeit. Ich glaubte nicht, dass sie mir ihren buddhistischen Monolog hielt, um irgendetwas zu vertuschen. Das war alles nur zu sich selbst gesagt. Sie versuchte immer wieder auszuweichen, war fast erstaunt, dass es ihr nicht gelang.
»Ich will dich nicht erschrecken«, sagte ich. »Damals war es schlimm für dich, aber da warst du mutig.«
»Du denkst, dass ich kneifen will?«
»Ja.«
»Ich habe mir nur überlegt, wie ich es dir sagen soll.«
»Amla, es ist mir nicht mehr möglich zu akzeptieren, dass ich so viele Dinge nicht weiß. Und du solltest mir auch mal sagen, warum du es nicht beispielsweise ein wenig früher getan hast.«
»Gewisse Dinge weiß ich nicht mehr genau.«
»Und selbst in diesem Fall: Ich möchte, dass du darüber redest.«
»Warte«, sagte sie. »Ich brauche zuerst einen Kaffee.«
Sie hielt sich an meinem Arm fest, während sie sich unbeholfen aufrichtete. Ich staunte, weil sie plötzlich so zerbrechlich wirkte. Sie versuchte zu lächeln, brachte es aber nicht fertig.
»Es gibt auch noch Pflaumenkuchen. Du setzt mich unter Druck, aber ich tue es dir zuliebe.«
Ich führte sie die Treppe hinunter. Ich hielt ihre Hand und wunderte mich, dass sie so kalt war.
»Fällt es dir so schwer?«
Sie nickte, geistesabwesend.
»Es klingt vielleicht albern, aber mir kommt es auf einmal so vor, als hätte ich immer darauf gewartet, es dir endlich zu sagen. Aber wir haben wahrscheinlich so wenig Zeit, dass ich es nicht kann.«
»Wir haben alle Zeit der Welt. Und wenn du erst mal angefangen hast - ich kenne dich ja -, dann wirst du nicht mehr aufhören.«
Sie antwortete nichts darauf, sondern machte sich von mir los und ging in die Küche. Sie holte Tassen aus dem Schrank und stellte die Kaffeemaschine an. Dabei drehte sie mir den Rücken zu.
»Ich will dir zuerst von Longsela erzählen.«
»Von meiner Großmutter?«
»Ja, von der ›Herrin der Türkise‹. So wurde sie in Lhasa genannt. Hast du das nicht gewusst?«
»Nein, nein«, sagte ich. »Ich weiß nichts über sie.«
Ein Schweigen folgte. Ich räumte den Tisch ab, brachte Teller und Schüsseln in die Küche. Sie stand vor der Kaffeemaschine, mit unschlüssigem, verwirrtem Gesicht, und zog an ihrem Zopf, der ihr über die Finger fiel.
»Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll …«
Ich schnitt den Pflaumenkuchen an.
»Ich glaube, das Beste ist, mir zuerst von ihrem Haus zu erzählen.«
Sie warf ihren langen Zopf auf den Rücken.
»Von unserem Haus«, verbesserte sie mich. »Von dem Haus, in dem ich geboren wurde.«
Ich sah sie mit festem Blick an.
»Ja, von deinem Haus.«
»Also gut«, sagte sie. »Von meinem Haus.«
SECHSTES KAPITEL
W ie ist es, wenn eine Frau die Gabe des Erzählens besitzt und es selber nicht weiß? Wenn sie - wie in den Märchen aus Tausendundeiner Nacht - Bilder beschreibt, von Ereignissen berichtet, die so lange zurückliegen, dass sie selbst sie nicht hat miterleben können? Wir müssen in solchen Augenblicken über Geisteraugen verfügen. Wir alle befinden uns im Mittelpunkt eines Kreises, der sich immer weiter ausdehnt, in die dahinfließende Zeit. Einmal im Leben sollten wir uns bewusst werden, dass die Erde sich weiterdreht, von Jahreszeit zu Jahreszeit, und den Staub der Milliarden von Toten trägt, die auf ihr gelebt und gelitten haben. Die ganze Geschichte der Menschheit ist in Myriaden von Staubteilchen enthalten - und jedes davon ist ein Schicksal. Die Zeitalter gleiten hindurch, und wer kann sagen, ob mit den Menschen auch ihre Erinnerungen sterben? Wer kann sagen, ob sie nicht nach wie vor alles sehen können, alles hören, alles fühlen? Aber ich bin jung und längst noch nicht tot. Mit den Worten meiner Mutter: Ich mache eine Verwandlung durch, gehe an unbekannte Orte, betrete ein fremdes Haus. Fast alle Menschen, die dieses Haus einst bewohnten, leben nicht mehr. Ich weiß lediglich, dass es sie gegeben hat. Zu ihnen kann ich keinen objektiven, sondern nur einen geisterhaften Zugang haben. Besuche ich aus eigenem Willen die Welt der Schatten, erforsche ich auch meinen Ursprung. Die Existenz dieser Menschen verkörperte meine noch unbewusste Existenz, jene, die mit ihnen verschwand, aber die spätere Bildung meines Wesens bestimmte.
»Mach die Augen zu, Dolkar. Und jetzt denke an Lhasa. An die Stadt, die sie einst war, die kein Mensch mehr sehen wird, außer im Traum. Eine Stadt, auf einem Hochtal, umgeben von
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