Das Haus der Tibeterin
ein großes Seidenbild, in leuchtenden Farben bestickt, das die Göttin Palden Dolkar, die Schutzgottheit der Familie, zeigte, umgeben von religiösen Symbolen. Hier wurden Neujahrszeremonien und alle möglichen Feierlichkeiten, auch Partys, abgehalten. Zu Neujahr, nach der Ernte und bei anderen Festen war es üblich, dass die Familie mit den Dienern und den Leibeigenen, die es ja damals noch gab, die ganze Nacht hindurch feierte. Bis zum Morgengrauen gab es Musik, Tanz und Gelächter, die Göttin sah zu und hatte ihre Freude an dem frohen Treiben. Aber weil ursprünglich der Raum eine heilige Funktion erfüllte, kamen oft Mönche der verschiedenen Klöster, ließen sich in der Halle nieder und beteten für das Glück und den Wohlstand der Familie.
Der erste Abschnitt der Treppe besteht aus Granit, die weiteren Stufen aus Holz. Gehen wir hinauf, in die Wohnräume der Hausherrin: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Ankleideraum, Toilette und ein kleiner Vorraum, in dem sich ihr Zimmermädchen aufhält. Betrachte den schönen dunklen Fußboden, fast so glatt und glänzend wie ein Spiegel! Hier, im ersten Stockwerk, befindet sich auch der Gebetsraum der Familie, in dem gelegentlich Besucher empfangen werden. Vor der juwelengeschmückten Buddhastatue aus Bronze brennt den ganzen Tag Weihrauch. Auf dem Altartisch aus wundervoll geschnitztem
Walnussholz leuchten hundertundacht Silberschalen und alte, kostbaren Butterlampen.
Gehen wir den Weg zurück, ins Wohnzimmer und in den gleich angrenzenden Salon. Hier stehen zwei Tische aus purpurnem chinesischem Lack, mit Perlmuttintarsien. Die Spitzendecken kommen aus England, die roten und schwarzen Teedosen aus Japan. Der silberne Ständer trägt winzige Teetassen, azurblaue Lichtkelche aus Jade. Sie gehörten zur Aussteuer der Hausherrin, ebenso die indischen Zigarettendosen aus Elfenbein, die silbernen Spucknäpfe und die Tischglocke zum Rufen der Dienstboten. Die Wände schmücken ›Thankas‹ - Rollbilder, mit Fabeltieren, Feen und Drachen und unbekannten Blumen bemalt. Man malt auf Seidenstreifen oder auf Pergament, das in komplizierten Verfahren hergestellt wird und Jahrhunderte überdauert. Die Farben der Teppiche sind schimmernd und stark wie Beeren oder Edelsteine. Es gibt Sessel, aber am Boden sind auch Kissen jeder Art verstreut, runde und viereckige, auf denen man sich mit gekreuzten Beinen niederlassen kann. Alle Kissen sind mit Satin überzogen: dottergelb, rubinrot, nachtblau. Unter den Erkerfenstern, die wegen des heißen Sommerlichts und der Winterstürme verglast und recht klein sind, befindet sich eine Sitzbank, gepolstert mit Yakhaaren, auf der satinbezogene Kissenrollen liegen. Auch vor dieser Sitzbank stehen kleine Lacktische. Alle Teeschalen, die dort auf die Besucher warten, sind mit reich verzierten, spitz zulaufenden Deckeln versehen und haben silberne Untersetzer. Der Tee steht immer auf sanft glühender Holzkohle bereit und wartet auf jeden, der kommt und ein Schlückchen will. Weil der Fluss im Sommer recht trübe ist, stammt unser Trinkwasser aus Gebirgsquellen. Es wird von kräftigen Dienern in Behälter gefüllt und auf Maultiere geladen.
Und nun der zweite Stock. Ein gewölbter Gang und eine Anzahl Stufen führen zu den Gästezimmern. Keiner stört sich
daran, wenn Besucher, die sich für ein paar Tage angesagt haben, Wochen oder sogar Monate bleiben. Das bedeutet ganz einfach, dass die Gäste sich wohl fühlen. Auf der anderen Seite befinden sich die Schlafzimmer der Familie, die große Betten mit vier Pfosten haben und massive Schränke voller Bettkissen und Decken, leichte Wolldecken für den Sommer und mit Pelz überzogene Decken für den Winter, die in ihrem Seidenfutter Wünsche und Träume bewahren. Die violetten Vorhänge vor dem Fenster haben rote Fransen; ziehst du sie auf, kannst du den Garten sehen, mit seinen Ziersträuchern, Topfblumen und Aprikosenbäumen. Im Winter ist der Boden hart gefroren, aber die Bäume werden gut gepflegt und vor Kälte geschützt und tragen im Spätsommer große, pralle Früchte. Die Küche liegt abgesondert in einem Nebengebäude, weil Fleisch zubereitet wird, das als unrein gilt. Der Boden besteht aus gestampftem Lehm, und der große Herd in der Mitte ist von allen Seiten zugänglich. Das Feuer brennt Tag und Nacht; es wird mit einem riesigen Blasebalg geschürt. Man heizt mit Kleinholz und trockenem Yakmist. Kochen ist Schwerarbeit, am Herd stehen Männer, die Frauen verrichten die leichteren Aufgaben.
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