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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Bergen, die wegen der Höhenlage der Stadt eher flach und niedrig erscheinen. Siehst du die wuchtigen Steinhäuser? Manche sind über dreihundert Jahre alt, sie stehen wie mit dem Boden verwachsen. Siehst du die steilen, vergoldeten Dächer der Gebetshäuser, die Weidenbäume längs des Kyichu-Flusses? Die lange Steinmauer, die den Sommerpalast Seiner Heiligkeit schützt? Siehst du die Brücke mit ihrem Dach aus Türkisen, den gigantischen Potala-Palast, von dem erzählt wird, dass einst fromme Riesen ihn zu Ehren Buddhas erbauten? Und das Haus, Dolkar? Kannst du es sehen? Das Haus steht im Herzen Lhasas, im Stadtviertel Shöl. Wir kommen zu dem eisenbeschlagenen Doppeltor. Die hölzernen Torflügel schwingen knarrend zwischen den wuchtigen Pfosten. Über ihren schweren Bohlen reichen die eisernen Angeln fast bis zur Hälfte der Flügel. Tritt ein, Dolkar, denn hier wohnen deine Urgroßeltern. Vermeide es, mit dem Fuß die hölzerne Schwelle zu berühren: Das bringt Unglück! Der Hof, siehst du, ist mit Steinplatten gepflastert, die jeden Morgen gefegt und besprengt werden. Um den Hof herum befinden sich die Stallungen für die Pferde, die Speicher, die Unterkunft für die Pferdeknechte, die immer ein Lied auf den Lippen haben, das lustig und oft nicht stubenrein ist. Sie schlafen auf Pritschen, aber unter warmen Decken. Die Vorratskammern befinden sich ebenfalls hier und auch der Chang-Raum, wo die Dienstboten das Chang-Bier für die Familie brauen. Mitten im Hof ist ein viereckiger Steinsockel zum Besteigen der Pferde in den Boden eingelassen. Bis zu diesem Sockel reiten alle Besucher. Bei wichtigen Gästen, oder wenn ein Familienmitglied von einer längeren Reise zurückkehrt, breitet ein Pferdeknecht als Willkommensgruß einen Seidenteppich über den Stein. In einem Dreifuß-Ofen brennt immer ein kleines Feuer, das die
Fliegen fernhält. In den Sommermonaten sind die Fliegen nämlich eine große Plage in Lhasa. Im Hof riecht es nach Pferden, nach Holzkohle, nach Heu und nach süßem Chang. Und natürlich riecht es bei heißem Wetter nach Latrine, weil die Luft alle Gerüche zum Gären bringt. Zwei Männer kommen regelmäßig, leeren die Senkgrube; der Kot wird in der Sonne getrocknet. Die Bauern streuen ihn dann von Hand, über die Felder gehend, aus, weil der Dünger die Erde fruchtbar macht. Die Knechte haben immer viel zu tun, und wenn sie nichts zu tun haben, putzen sie die Messer- und Säbelklingen. Wie sie das machen? Nun, sie rühren Asche und Wasser auf einem Holzbrett an und reiben den Stahl daran, bis der Rost verschwindet. Sie lachen mit blitzenden Zähnen, sie schwingen ihre Dolche zum Spaß. Diese Männer stammen - wie auch ursprünglich unser Geschlecht - aus dem hohen Gebirge des Ostens.
    Lhasa, das weißt du ja, bedeutet ›Ort der Götter‹. Die acht Berge, die die Stadt umgeben, tragen alle den Namen einer Gottheit. Weil unser Haus in einer Ecke der inneren Stadtmauer steht, hat man aus den Fenstern den Blick über die große Ebene bis zu den Westbergen. Die Mauer schützt das Haus vor den Süd- und Ostwinden; allerdings nützt das nicht viel, denn der häufigste und kälteste Wind bläst von Norden. Vielleicht ist dies der Grund, warum in Tibet der Norden als unheilvoll gilt. Klöster, Tempel und Häuser, ja sogar Hütten und Zelte stehen immer mit der Front nach Süden. Fast alle Häuser in Shöl waren im alttibetischen Stil gebaut; abgesehen davon, dass in einigen Fenstern das Reispapier durch Glasscheiben ersetzt wurde, hat sich seit Jahrhunderten wenig geändert. Unser Haus war von Weitem gut sichtbar, denn es war von einem Türmchen mit Schießscharten flankiert, wo sich früher bewaffnete Wächter aufgehalten hatten. Auf dem Dach war an jeder der vier Ecken ein Mast angebracht, an dem Gebetsfahnen flatterten. Diese Fahnen wurden jeden Monat neu
gehisst, was jedes Mal Anlass zum Feiern gab. Die Gefolgsleute tranken Chang aus großen Krügen und tanzten und sangen, bis sie alles ausgetrunken hatten. Hinter den Türen, in den dunklen Gängen, lauerten sie dann den Dienstmädchen auf, die sie lachend zurückstießen. Sie störten sich nicht an ihrer Zudringlichkeit; sie kamen aus Dörfern, in denen derbe Sitten herrschten. Komm, Dolkar, ich will dir jetzt das Haus zeigen. Du sollst es im Geist sehen, wie es einst war. Dreistöckig war es und enthielt viele Zimmer, alle nicht sehr groß, durch Gänge und Treppen miteinander verbunden. In der Empfangshalle, ›Tsomchen‹ genannt, befand sich

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