Das Haus der Tibeterin
näherte, die wie ein schwarzer Spalt im Gestein klaffte. Auch Alo begann zu laufen. Er musste um jeden Preis verhindern, dass der Junge die Höhle
entdeckte. Auch die grasenden Pferde waren in Unruhe. Sie kannten bereits die Bedeutung der Schüsse, der Lärm hatte sie in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Sie scharrten wild mit den Hufen, ihre Ohren waren wie Dolche gespitzt. Jedes Tier wirkte sprungbereit, voll feindlicher Abwehr. Alo sah das alles mit einem Blick, während er, so schnell er es vermochte, den Hang emporkletterte. Der Junge war fast bei den Pferden angekommen, als er unvermittelt stehen blieb. Er hatte die Höhle entdeckt. Alo stieß einen bösen Fluch zwischen den Zähnen aus. Jetzt würde er den Jungen töten müssen. Sein Gewehr flog an die Schulter. Doch der Junge hatte sich bereits abgewandt. Er hatte gesehen, dass er verfolgt wurde, und rannte den Pferden entgegen. Als Alo, das Gewehr im Anschlag, über den Kamm kletterte, war der Junge schon bei den Tieren. Er warf einen Blick über seine Schulter, rannte auf das ihm am nächsten stehende Pferd zu - einen böswillig schnaubenden Braunen - und packte es mit gekonntem Griff. Er machte einen Satz, schwang sich hoch, warf ein Bein über den Rücken des Hengstes. Er hatte ein absolut sicheres Gefühl, wie ein Pferd zu reiten war, und brauchte nur ein bisschen nach vorn zu rutschen, um richtig zu sitzen. Doch er hatte die feinen Sinne des Pferds unterschätzt oder nicht beachtet. Der Hengst brachte die ungewohnte Last auf seinem Rücken mit den soeben gehörten Schüssen in Verbindung und setzte sich augenblicklich zur Wehr. Er warf den Kopf vor und zurück, richtete sich wütend auf, drehte sich mit fliegender Mähne im Kreis. Der Junge klammerte sich auf dem Pferderücken fest, doch vergeblich. Auf einmal blieb der Rappe so unvermittelt stehen, dass seine Hufe sich ins Gras zu bohren schienen. Er senkte den dicken Kopf und schlug mit aller Kraft aus. Bei einem solchen Stoß hätte sogar Alo die Gewalt über sein Reittier verloren. Ohne Sattel und Zaumzeug konnte sich der Junge nicht halten. Er flog hoch durch die Luft und stürzte kopfüber zu Boden. Der Braune verdrehte die blutunterlaufenen Augen, trabte im
Halbkreis, die Nüstern voller Schaum, und knurrte wie ein bösartiger Hund. Er schüttelte die Mähne, zeigte die großen gelben Zähne, bevor er schrill wiehernd auf den bewusstlosen Jungen losging in der offensichtlichen Absicht, ihn zu zertrampeln. Gerade noch rechtzeitig schnitt Alo ihm den Weg ab. Mehr noch als seine befehlende Stimme war es wohl das Blitzen der Sonne auf seinem Gewehrlauf, das den Braunen verscheuchte. Er machte im vollen Schwung eine Wendung, die Hufe fielen schwer auf den Boden zurück. Mit wütendem Schnauben drehte der Braune ab, galoppierte der Herde entgegen. Und gleichzeitig mit ihm setzten sich alle Pferde in Bewegung, sprengten über den Kamm, dem Gehölz entgegen. Während das Donnern der Hufe verklang, näherte sich Alo dem Jungen, der unbeweglich im Gras lag. Er hatte seine Kappe verloren. Aus einer tiefen Stirnwunde tropfte Blut und rann ihm über das Kinn, gemischt mit dem Schweiß auf seinem Gesicht. Alo sah sofort, dass er kein Chinese war. Und er war auch kein Junge, sondern ein Mädchen! Alo traute seinen Augen nicht. Voller Bestürzung packte er die Verletzte und setzte sie behutsam auf. Das Mädchen ließ ein ersticktes Stöhnen hören, das eher wie ein etwas lauterer Atemzug klang. Ihr Kopf schwang hin und her, die Augen waren geschlossen. Ihr kurz geschnittenes Haar klebte wirr und zerdrückt rundum an ihrem Kopf. Ihr ganzes Gesicht war verschwollen, die Lippen reichlich dick, die Unterlippe schon blau verfärbt. Als Alo sie forschend betrachtete, hob sie die entzündeten Lider ein bisschen und blickte ihn misstrauisch durch ihre Wimpern hindurch an. Dann zuckte sie zusammen, versuchte sich zu wehren. Alo wunderte sich, dass sie noch so viel Kraft aufbrachte.
»Ruhig!«, sagte er. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
Sie versuchte zu sprechen. Sie musste sich auch im Mund verletzt haben, denn aus ihren Lippen quoll Blut.
»Die Soldaten …?«
»Die sind weg«, antwortete Alo knapp.
Sie stützte sich auf seinen Arm, versuchte sich aufzurichten. Dabei zog sie vor Schmerz die Stirn kraus, gab aber keinen Laut von sich.
»Beweg dich lieber nicht«, sagte Alo.
Sie atmete ein paar Mal tief aus und ein, wartete, bis der Schmerz sich beruhigte. Ihre Haltung zeigte eine Vertrautheit mit
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