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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Alo dem Wallach den Sattel ab, rieb das Pferd trocken und führte ihn zum Trinken an die kleine Sickerquelle. Dann band er ihm den Futtersack um. Erst als Joru versorgt war, betrat er, sich bückend, die Höhle. Die letzte Sonnenglut fiel in den niedrigen Eingang, sodass er die Gestalt des Mädchens wie in einem roten Nebel erblickte. Sie saß in aufrechter Haltung da, wobei sie mit beiden Händen die Knie umklammerte. Etwas an dieser übertrieben steifen Haltung kam Alo sonderbar vor. So saßen Eremiten, wenn sie in Askese waren und nicht umkippen wollten.
Das Mädchen war Alo ein Rätsel. Das Blut auf ihrem Gesicht war getrocknet, aber ihre verschwollenen Züge entstellten sie. Ihre Augen waren in den Blutergüssen kaum noch zu sehen.
    »Wie geht es dir?«, fragte er.
    Sie nickte.
    »Besser.«
    »Nichts gebrochen oder verstaucht?«
    Sie schüttelte den Kopf. Sie sprach nur das Nötigste.
    »Du kannst dich waschen«, sagte er. »Hier oben ist ein Bach.«
    Sie nickte, ohne sich zu rühren.
    »Das viele Blut«, meinte er.
    Sie antwortete immer noch nicht.
    Er sagte: »Dein Hemd sieht schrecklich aus. Du kannst eins von mir haben.«
    Sie bewegte leicht den Kopf. Es schien ihr egal zu sein. Er sagte: »Das fällt auf. Komm, ich zeige dir, wo der Bach ist.«
    Sie erhob sich langsam und mit steifen Gelenken. Weil sie kaum gehen konnte, führte er sie am Arm. Der Bach war zum Glück nicht weit, ein kleines Rinnsal nur, das zwischen Gräsern und Moosen aus dem Boden sickerte. Sonam sah zuerst auf das Wasser, dann auf ihn.
    »Lass mich allein!«
    Sie kauerte sich dicht an das Wasser, die Knie hochgezogen, und rührte sich nicht. Alo entfernte sich und musste sich zwingen, sich nicht nach ihr umzudrehen. Etwas war an ihr, für das er schwer eine Bezeichnung fand: eine Traurigkeit über alle Tränen hinaus, eine Dumpfheit in den Augen. Nicht dass sie umhergeschweift wären wie die Augen von Menschen, deren Verstand getrübt war - sie waren im Gegenteil eher zu ruhig. Alo war auch die besondere Art aufgefallen, in der das Mädchen sprach. Sie gebrauchte ihre Stimme in der gleichen Weise wie Leute, die nicht gehört werden wollen. Die Khampas sprachen auch so, wenn Feinde in der Nähe waren, mit
dieser heimlichen Stimme ohne Schwingungen, ohne Resonanz und Klang.
    Er ließ sie ungern allein am Bach - ein Gefühl, das ihn verwunderte, war er doch schon lange nicht mehr gewohnt, sich um irgendjemanden Sorgen zu machen. Sie blieb auch so lange weg, dass er unruhig wurde. Dann endlich kam sie. Ihr Gang war zögernd und unsicher, die Wunden mussten ihr starke Schmerzen bereiten. Doch sie hatte sich das Gesicht gründlich gewaschen, und er sah, dass die Wunden an der Stirn und an den Lippen nicht tief waren. Sie hatte sein Hemd angezogen, ihr eigenes jedoch nicht wieder mitgebracht. Über seinem Hemd trug sie immer noch die Jacke der Pioniere. Alo hasste diese Uniform, musste aber zugeben, dass sie sich zur Tarnung gut eignete.
    Zwischen drei Steinen hatte er ein Feuer entfacht und kochte Wasser in einer Blechschüssel. Sonam ließ sich unbeholfen neben ihm nieder, wobei sie beide Arme seitwärts hängen ließ. Sie klapperte leicht mit den Zähnen.
    »Kalt?«, fragte er.
    Sie schüttelte wortlos den Kopf.
    »Noch Schmerzen?«
    Abermals ein Kopfschütteln. Er beachtete ihre Verneinung nicht. »Ich habe etwas, das dir helfen wird.«
    Er stöberte in seiner Tasche. Sonam öffnete das Döschen, das er ihr reichte, und roch aufmerksam an der braunen Salbe. Dann hob sie den Blick.
    »Mohn?«
    Er war überrascht, dass sie es wusste.
    »Ja, die Salbe kommt aus Indien.«
    Sie tauchte behutsam den Finger hinein und strich dann über ihre Blutergüsse. Dann gab sie ihm wortlos das Döschen zurück. Man hatte ihr auch abgewöhnt, Danke zu sagen. Alo wies auf das Feuer.
    »Diese Holzart brennt gut und fast rauchlos.«

    Sie nickte stumm. Inzwischen brodelte das Wasser. Alo öffnete ein Päckchen mit Teeziegeln, warf die Blätter in die Kanne und schüttelte sie im abgekochten Wasser. In einer kleinen Blechschale mischte er Tee mit Tsampa-Mehl. Geschickt drehte er die Schüssel in der linken Hand, während er mit den Fingern der rechten die Flüssigkeit umrührte. Danach streute er Salz hinein, bis ein Brei entstand; dazu reichte er getrocknetes Yakfleisch, mit Salz und rotem Pfeffer gewürzt. Zufrieden sah er zu, wie Sonam ihren Tee schlürfte und mit kräftigen Zähnen das zähe Yakfleisch zerkaute. Sie war stolz und versuchte zu verbergen, wie

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