Das Haus der Tibeterin
körperlichen Schmerzen, die man bei einem so jungen Menschen nicht erwarten würde. Ihr Atem ging tief und schwer. Mühsam formte sie die Worte.
»Was … ist mit mir?«
»Du bist vom Pferd gestürzt.«
Sie legte die Finger flach auf die blinzelnden Augen.
»Ist der Braune … verletzt?«
Das waren Worte, die nur eine Nomadenfrau über die Lippen gebracht hätte. Alos Staunen wuchs.
»Nein. Er hatte nur Angst. Die Schüsse.«
»Ja …« Sie sprach leise und tonlos. »Er ist verwildert. Ich … ich wollte ihm … mehr Zeit lassen. Aber die Soldaten waren schon ganz nahe …«
»Kommst du aus dem Arbeitslager?«, fragte Alo. »Bist du ausgerissen?«
Sie hob matt die Hand, hielt drei Finger hoch.
Er starrte sie an.
»Dreimal?«
Sie machte ein bejahendes Zeichen.
»Dreimal, ja.«
Alo konnte nicht glauben, was er da hörte. Dreimal entflohen und immer noch am Leben!
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Sonam.«
Er nickte.
»Ich bin Alo.«
»Alo?« murmelte sie geistesabwesend. Ihr schwanden die Sinne, ihre Haut war aschfahl geworden und klebrig vor
Schweiß. Die Nachwirkung des Schocks. Er hielt sie fest, half ihr, auf die Beine zu kommen.
»Kannst du gehen?«
Sie machte ein paar Schritte, langsam und mit großer Mühe. Dann sah sie ihn umflort an und knickte ein. Sie schnappte nach Luft, ihre Augen glänzten und schweiften umher, aber sahen ihn nicht. Eine Gehirnerschütterung haut jeden um, dachte Alo. Als ihr Kopf zurücksank, hob er die Bewusstlose hoch und trug sie der Höhle entgegen.
DREIUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL
I n der Höhle war es dunkel und schwül. Nachdem er das Mädchen behutsam auf den Boden gelegt hatte, sah Alo sich um. Er riss ein Streichholz an und vergewisserte sich, dass die Sachen seines Vaters dort waren, wo er gehofft hatte, sie vorzufinden. Die verschnürten Pakete und Kisten waren unter Decken und einem alten Yakfell in einer Nische verborgen, die die Erosion in den Sandstein gegraben hatte. Der Boden wies undeutliche kleine Tierspuren auf. Als Alo, von tanzenden Schatten umgeben, Marderkot fand, nickte er vor sich hin, zufrieden und etwas wehmütig. Der letzte Mensch, der diese Höhle aufgesucht hatte, war sein Vater gewesen, und seitdem waren immerhin zwei Winter vergangen.
Er bewegte leicht die Hand, die winzige Flamme erlosch. Dann beugte er sich über das Mädchen und sagte leise: »Warte hier auf mich!«
Sie gab ihm mit einem Wimpernzucken zu verstehen, dass sie ihn gehört hatte. Alo schulterte sein Gewehr, verließ die Höhle und kletterte zunächst zu den erschossenen Soldaten hinab. Die Kälte des Todes hatte sich bereits eingestellt, doch die kleinen Nagetiere warteten die Nacht ab, um sich ihrer Beute zu nähern. Alo nahm den Soldaten die Gewehre und Messer ab und sämtliche Dinge, die sie bei sich hatten und die er gebrauchen konnte. Mit ziemlicher Anstrengung zerrte er die Erschossenen bis zu einer Schlucht, die er ausgemacht hatte. Er kippte einen nach dem anderen über den Rand, bevor er sorgfältig alle Spuren beseitigte. Dann holte er die erbeuteten
Waffen und schnallte sich die Patronengürtel um. Es war eine ansehnliche Last, die er da zu schleppen hatte. Während er zwischen den Bäumen wieder nach oben kletterte, kam ihm der Geländewagen in den Sinn. Alo wollte ihn nicht dort stehen lassen. Ein solcher Leichtsinn konnte ihm ein ganzes Bataillon der Volksarmee auf den Hals hetzen. Und wenn sie die Grotte fanden, dann hatte er die Bescherung. Dieses Risiko durfte er nicht eingehen. Allerdings bot es sich an, die Nacht abzuwarten. Zuerst also das Mädchen. Nach einer Weile mühsamen Kletterns und Strauchelns fand Alo sein Pferd, wo er es zurückgelassen hatte. Er band den kleinen Wallach los und sprach mit den sanften Lauten der Khampasprache auf ihn ein.
»Joru, du bist ein tapferes Pferd, du hast keinen Mucks gemacht, als ich die Soldaten erledigte. Auf dich kann man sich verlassen. Komm! Ich habe eine Überraschung für dich.«
Der Weißgescheckte schaute ihn aufmerksam an. Joru war ein tüchtiges Pferd, und das wusste es auch. Sein Fuß war so sicher wie der Fuß eines Blauschafs, von denen man weiß, dass sie die geschicktesten Kletterer sind. Alo schnallte die Waffen am Sattel fest, dann schwang er sich auf Jorus Rücken und machte sich auf den Weg zur Höhle. Die Sonne färbte sich rot, der Himmel zeigte sich weit und glasklar mit einem grünlichen Schimmer. Jeder Busch, jeder Grashalm, jedes Blatt warf einen langen Schatten. Vor der Höhle nahm
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