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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Blutsbande wesentlich. Die anverwandten Familien bilden eine Sippe und werden die Knochen genannt - eine Bezeichnung, die auch in China und Korea gebräuchlich ist. Die Abstammungslinie von der weiblichen Seite wird Sha - Fleisch - genannt und hat das stärkere Gewicht. Man heiratet innerhalb der Sippe. Inzucht kommt nicht auf, weil die Verwandtschaft bis ins neunte Glied reicht. Auf diese Verwandtschaft kann sich der Nomade jederzeit berufen. Sie bringt gleichermaßen Vorteile und Pflichten mit sich, auch politische. Ich traue diesen Menschen, traue ihnen so weit, wie sie mir trauen. Heute Morgen stellte ich Kanam geradeheraus die Frage: ›Sag mir, ob es wahr ist, dass die Deinen auf Raubzug gehen.‹
    Da lachte er; und wie er lachte! ›Nun‹, meinte er, ›die Raubzüge hätten nichts mit Krieg zu tun, ging es bei ihnen doch lediglich darum, Geschicklichkeit zu zeigen. Händler sind so reich, dass es ihnen nichts ausmacht, ihren Überfluss mit uns zu teilen.‹

    ›Höchst unfreiwillig, würde ich meinen.‹
    ›Gewiss. Aber wenn es ihnen nicht passt, warum jammern sie bloß und wehren sich nicht? Werden wir bestohlen, zahlen wir es den Räubern mit gleicher Münze heim und fordern die Zinsen dazu. Die Händler haben das Herz einer Maus. Nun, das ist ihre Sache. Immerhin verpflichtet uns die Ehre, den Ausgeraubten genügend Wasser, Decken und Lebensmittel zurückzulassen, damit sie das nächste Dorf erreichen können. Wir denken, das ist ein faires Geschäft.‹<
    Ich verbiss mir ein Lächeln.
    ›Und was sagt Seine Heiligkeit zu diesem fairen Geschäft?‹
    Kanam machte ein Gesicht, als ob er darüber nie nachgedacht hätte, bevor er die Augen zum Himmel hob.
    ›Seine Heiligkeit ist jung und lebt im Kloster. Von der bösen Welt weiß er nicht viel.‹
    ›Du machst es dir leicht!‹<
    Er lachte wie ein Wasserfall. Ich konnte nicht anders, als mit ihm zu lachen. Jetzt, da es seinem Sohn besser ging, entspannte sich Kanam, zeigte Offenheit und den zynischen Humor, der den Nomaden eigen ist. Nichts an seiner Erscheinung war weich. Seine Härte schien tief in seinem Wesen zu wurzeln; sie war wie eine schnell zupackende, gefährliche Kraft, aber ohne Grausamkeit. Ich begann zu verstehen, warum die Tradition Seine Heiligkeit dem Schutz solcher Leibwächter anvertraute. Ihr Gefühl für Ehre war etwas, was Stadtmenschen sich nicht vorstellen konnten. Wo wir leben, wie wir leben, hat wenig zu bedeuten, sagte Kanam. Unser Lebensziel bleibt immer das Gleiche: Treue dem heiligen Chenresig und seiner Verkörperung, der wir dienen. Treue Seiner Heiligkeit! Und Tapferkeit in seiner Verteidigung.
    Kanam musste viel Vertrauen und Sympathie bei mir spüren, denn unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählte er mir von dem Geheimbund der Khelenpa. Zu dieser Vereinigung gehörten fünfzig Männer, die Tapfersten, die alle geschworen
hatten, im Notfall für Seine Heiligkeit ihr Leben zu opfern. Die meisten waren Mönch-Soldaten, aber nicht alle, betonte er nachdrücklich. Ich fragte, ob auch er zu dieser Schutztruppe gehörte. Da lächelte er nur und schien die Frage zu überhören. Doch aufgrund seines Verhaltens, seiner Art, über diese Dinge zu sprechen - oder zu schweigen -, hatte ich durchaus das Gefühl, einen dieser Krieger vor Augen zu haben. So kam es, dass wir uns zunehmend über Politik unterhielten; ich staunte, wie gut Kanam im Bilde war. Dass in China der Bürgerkrieg tobte, wusste natürlich jeder. Selbst die in Lhasa ansässigen Chinesen - Händler zumeist - begannen sich unruhig zu fühlen. Sie hatten gute Gründe dazu. Tibet wollte mit der chinesischen Politik nichts zu tun haben, wusste die Regierung doch zu gut, dass ein großes, rotes China eine riesige Gefahr für die Unabhängigkeit Tibets und seine religiöse Freiheit darstellte. Ich erzählte Kanam, dass kürzlich die Regierung beschlossen hatte, alle Chinesen aus Lhasa auszuweisen. Es waren einige Hundert, die von dieser Maßnahme betroffen waren. In Lhasa gab es einen chinesischen Sender, der vom tibetischen Militär geschlossen wurde, sodass die chinesische Regierung erst von der Sache erfuhr, als der Ausweisungsbefehl bereits gegeben war. Gleichzeitig wurde das Post- und Telegraphenamt Lhasas versiegelt, was Anlass zu unruhigen Spekulationen gab. Die Chinesen mussten ihre Wohnungen räumen, die Wagen standen schon bereit. Eine Militäreskorte brachte sie zur Grenze.
    ›Mao Tse-tung wird uns das heimzahlen‹, sagte Kanam düster. Ich teilte seine

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