Das Haus der Tibeterin
Meinung. Eine Zeit lang war es in Lhasa ruhig gewesen - ungewöhnlich ruhig. Aber kaum war Mao Tse-tung an der Macht, als er auch schon bekannt gab, dass Tibet zum Mutterland gehörte und unwiderleglich ein Teil von China sei. Die schlechten Nachrichten häuften sich. Das Staatsorakel war in Trance gefallen und hatte für Tibet eine große Bedrohung von Norden und Osten vorausgesagt. Die
Sitzungen des Orakels waren geheim, doch schlimme Gerüchte sickern schnell durch, und die Menschen auf der Straße fühlten sich sehr erschrocken. Jedoch glaubten sie felsenfest an die Milde der Götter und waren sicher, dass ihr Land beschützt wurde. Die Nationalversammlung allerdings, die aus fünfzig weltlichen und geistlichen Beamten bestand, dachte nüchtern und bereitete sich auf schlimme Zeiten vor. Seiner Heiligkeit war geraten worden, den Sitz seiner Regierung in die Grenzstadt Yatung zu verlegen, was dann auch geschah. Der junge Dalai indessen entwickelte schnell einen starken politischen Weitblick. Er hatte eingesehen, wie gefährlich die Unschlüssigkeit Tibets war. Unsere gewohnte Isolationspolitik war nicht nur unzeitgemäß, sondern äußerst gefährlich. In aller Eile wurden diplomatische Beziehungen aufgenommen. Delegationen, die aus Mönch-Beamten und Adeligen bestanden, die in Indien Englisch gelernt hatten, reisten nach Peking, Neu-Delhi, Washington und London.
Kanam zündete sich eine Zigarette an.
›Wie wurden sie dort empfangen?‹, knurrte er.
›Schlecht‹, sagte ich. ›Alle hatten Angst vor China.‹
Kanam sagte nichts, spuckte nur mit gleichgültiger Verachtung auf den Boden. Ich wusste, was er dachte, und dachte das Gleiche. Weder von den Vereinten Nationen noch von irgendeinem Land war Hilfe zu erwarten. Wir hatten tibetische Gesandte nach Peking geschickt, um zu verhandeln. Die Verhandlungen verliefen schlecht. Die Gesandten sahen sich gezwungen, einen Siebzehn-Punkte-Vertrag zu unterzeichnen, ohne dass ihnen Zeit gelassen wurde, sich vorher mit Seiner Heiligkeit oder der Regierung zu beraten. Dieser Vertrag überließ dem Dalai-Lama die innere Verwaltung Tibets und gewährleistete die vollkommene Achtung der Religionsfreiheit. Dafür erlangte Rotchina die Vertretung Tibets im Ausland und übernahm die Verteidigung des Landes. Dieser Punkt gab China das Recht, Militär ins Land zu schicken, so viel man für
nötig hielt. Und somit hatten es die Chinesen in der Hand, alle ihre Forderungen durchzusetzen.
›Und so kommt es‹, sagte ich zu Kanam, ›dass du chinesische Regimenter an der Grenze hast.‹
›Sie sind schon tief in unserem Land‹, sagte Kanam. ›Wir können sie nicht leiden.‹
›Ja, das denke ich mir.‹
Kanam stieß den Rauch durch die Nase. ›Kushog, habt Ihr jemals gesehen, wie unsere Hirtenhunde kämpfen?‹<
Ich schüttelte den Kopf.
›Unsere Hunde‹, sagte Kanam, ›schlagen ihre Zähne in die Beute und schütteln sie, bis ihre Knochen brechen. Und solange sich die Beute noch regt, lassen sie nicht von ihr ab. Nun, so kämpfen unsere Hunde. Wir machen es auf die gleiche Art.‹
Kanams Männer begnügten sich in dieser Zeit damit, Steinlawinen auszulösen, um die von den Chinesen benutzten Gebirgsstraßen zu versperren. Es kam oft vor, dass sie Außenposten überfielen und Waffen, Munition und Nahrungsmittel erbeuteten. Sie stahlen auch ihre Gelände- und Lastwagen, ihre Maultiere und Pferde.
›Der Kampf mit China hat längst begonnen‹, sagte Kanam. ›Die Götter werden siegen!‹<
Er sprach dann nicht mehr darüber, und ich versuchte auch nicht, mehr zu erfahren. Doch ich hatte einen Menschen vor mir, der - obwohl er nichts davon wusste - von den Göttern beschirmt und geleitet wurde. Er besaß jene gelassene Stärke, die nur aus der Einsicht wächst, dass nichts auf Erden kostbarer als Freiheit ist.«
So schrieb Tenzin damals. Und Longsela, viele Jahre später, spürte beim Lesen dieser Zeilen Wehmut aufsteigen. Die Erinnerungen waren tief in ihrer Herzkammer verborgen; sie gehörten zu ihr und würden bestehen, solange das Blut in ihren Adern kreiste.
ZEHNTES KAPITEL
A m zweiten Tag, als Tenzin Alo untersuchte, war der kleine Junge schon viel lebhafter. Er setzte sich auf und zeigte ein Lächeln, das ganz reizend war. Tenzin hatte ihm keinen Mohn mehr gegeben, sein Schlaf war natürlich gewesen.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Tenzin.
»Ich habe Hunger«, sagte das Kind.
Zum ersten Mal seit jenem Unglückstag hatte Alo wieder einen gesunden, einen
Weitere Kostenlose Bücher