Das Haus der Tibeterin
jedes Tier um Vergebung baten, bevor sie es töteten, und danach ein Versöhnungsgebet sprachen. Ihre Kleider aber bewunderte Longsela sehr. Die feine Wolle, die vom Nacken der Schafe stammte, wurde auf tragbaren Webrahmen verarbeitet. Die Frauen spannten den Rahmen zwischen Steine, befestigten ihn mit Stöcken und saßen dann mit ausgestreckten Beinen davor. Und man sah kaum einen alten Menschen, ob Frau oder Mann, der nicht Garn auf einer kleinen Handspindel zwirbelte. Die Bordüren ihrer Kleider färbten die Nomaden mit Planzenfarben, die so stark und leuchtend waren wie die Farben der Bergblumen. Frauen wie Männer schmückten sich mit großen Türkisen, Korallen und Kugeln aus Bernstein. Außerdem trugen fast alle Karneolsteine, »Dzi-Steine« genannt, denen sie eine glückbringende Kraft zuschrieben. Die röhrenförmigen Steine wurden an Lederschnüren aufgereiht. Die Schönsten und Größten trug gewiss Tesla, meinte Longsela, wobei sie immer verstohlen ihren Schmuck betrachtete. Für gewöhnlich waren Dzi-Steine gelb oder schwarz gesprenkelt. Die Steine aber, die Tesla trug, waren von ebenmäßigem Rot und Dunkelgelb, mit einer starken Leuchtkraft, purem Gold und Rubin ähnlich. Longsela hätte alles darum gegeben, eine solche Kette ihr Eigen zu nennen! Wie gern hätte sie ihre Gastgeberin gefragt, wo diese wundervollen Steine zu finden waren. Aber Tesla dachte an das Überleben ihres Kindes, und Longsela wollte nicht zudringlich sein.
Das Licht wurde sanfter und die Luft kälter, als Tesla zu Tenzin kam und berichtete, dass Alo erwacht war. Tenzin begab sich sofort in ihr Zelt, und Longsela, gleichermaßen von Sorge
und Hoffnung erfüllt, ging mit ihm. Auch Kanam, der sich bei den Herden aufhielt, war wieder eingetroffen. Und natürlich wollte auch die Großmutter dabei sein. Als der Kleine das Zelt voller Menschen sah, hob er den Kopf und zeigte ein schwaches Lächeln. Tenzin setzte sich zu ihm.
»Nun, mein Kind? Alles gut?«
Alo nickte. Seine Augen waren blank, und er schien sich, trotz seiner Schwäche, besser zu fühlen. Tenzin legte die Hand auf seine Stirn, befühlte seinen Puls. Die Haut war warm, aber nicht mehr glühend. Tenzin nickte beiden Eltern, die still neben ihm kauerten, beruhigend zu.
»Das Fieber ist gefallen. Sehen wir uns mal das Bein an!«
Er schob die Felle und Decken zurück, öffnete den Verband und machte sich daran, das Knie zu untersuchen. Der dunkelrote Streifen war noch sichtbar, die Schwellung jedoch zurückgegangen und die schwärzliche Farbe verblasst. Tenzin hielt eine Weile beide Hände über die Wunde, wobei er den Kopf tief senkte und seinen Atem mit dem Atem des Kindes in Einklang brachte. Dann hob er den Kopf und sprach zu den Eltern.
»Ich denke, dass wir gewonnen haben. Aber er braucht mehr Zeit. Er soll jetzt viel trinken, etwas essen und dann wieder schlafen.«
Er erneuerte den Verband und sagte abschließend: »Wir müssen noch warten.«
Der Abend kam, und dann die Nacht. Auch der folgende Morgen ging vorüber. Tenzin saß vor seinem Zelt und machte sich Notizen. Seine täglichen Beobachtungen schrieb er in einem Heft auf. Jahre später, nach seinem Tod, sollte Longsela dieses Heft finden. Und alles, was sich damals zugetragen hatte, in ihrer Erinnerung wieder lebendig vor sich sehen.
»Der Horizont, von Berggipfeln begrenzt, liegt hier sehr hoch«, schrieb Tenzin. »Ewige Winde bewegen das Hochtal. Sie rücken aus dem Unendlichen vor, und die Geister reiten
auf ihnen in unsichtbaren Schwärmen. Die Gewaltakte der Khampa finden in dieser Wildheit der Natur ihren Ursprung. Wer sind sie denn, diese tollkühnen Reiter, wenn nicht unsere Ahnen? Wir, die in der Stadt leben, sind im Laufe der Jahrhunderte willensschwach und verweichlicht geworden. Jene Mauern, die uns schützen, sind auch ein Gefängnis. Unser Leben vollzieht sich zwischen dem Ertastbaren. Nomaden sind wie aufgelöst in der Zeit und stehen dennoch fest und stark wie Bäume. Sie sind ein Gleichnis - aber wofür? Doch es ist ja das Wunder der Gleichnisse, dass sie stets ein Rätsel bleiben.
Ich hoffe, dass ich den Kleinen heilen kann. Ich möchte nicht, dass diese Menschen uns verachten. Ihre Geringschätzung würde mich krank machen. Krank vor Scham.
Obwohl ungebildet, sprechen alle gut. Sie verfügen über eine erstaunliche Intelligenz und ein ebenso scharfes Gedächtnis. Sie haben, bei aller Wildheit, ein nobles Benehmen, verbunden mit dem Adel der Seele. In ihrer Gesellschaft sind die
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