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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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bat Longsela, seine Reisetasche zu holen, und wandte sich dann an die alte Frau.
    »Mütterchen, bring mir eine Schüssel mit heißem Wasser.« Die alte Frau brachte, was er wünschte. Alle sahen ehrfürchtig zu, wie Tenzin eine Handvoll Kräuter in das Wasser warf.
Dann begann er, mit einem sauberen Tuch die Wunde zu reinigen, wobei er so sanft und sorgfältig vorging, dass der Kleine nur einmal zusammenzuckte. Als die Wunde von allem Eiter gereinigt war, bestrich er ein frisches Tuch mit einer dunklen Paste, die herb nach Rinde roch und die - wie Longsela wusste - schmerzlindernd und desinfizierend wirkte. Zum Schluss befestigte er wieder die Stäbe. Seine Hände waren sicher und flink. Dann machte er eine Spritze bereit. Die alte Frau hielt unentwegt die Lampe, während er dem Kleinen die Nadel in den Oberarm stieß. Auch die Eltern saßen da, ohne sich zu rühren, bis Tenzin sich endlich aufrichtete. Longsela bemerkte zum ersten Mal, wie steif seine Bewegungen waren. Er war nicht mehr jung, und er wurde schnell müde.
    »Ich brauche dein Licht nicht mehr, Großmütterchen«, sagte er höflich zu der alten Frau. Dann lächelte er dem Kind gütig zu und streichelte seine Wange.
    »Du bist ein tapferer kleiner Junge. Ich gebe dir jetzt ein Mittel, und dann wirst du gut schlafen.«
    Er entnahm seiner Reisetasche eine kleine braune Stange und hielt sie ein paar Augenblicke lang ins Feuer. Als die Masse weich geworden war, brach er ein Stückchen ab, rollte sie zwischen den Fingern und sagte zu dem Kind: »Schluck diese Kugel mit ein wenig Tee herunter.«
    Der Kleine tat gehorsam, was er sagte. Es dauerte nur kurze Zeit, dann fielen ihm die Augen zu und sein Atem ging regelmäßig. Seine Mutter legte ihn auf den Khang und zog eine Decke über ihn, bevor sie Tenzin fragte: »Was habt Ihr ihm gegeben, dass er jetzt schlafen kann? Ist das ein Zaubermittel?«
    Tenzin lächelte gütig.
    »Du kannst es so nennen. Es ist ein Geschenk der mächtigsten und weisesten Zauberin dieser Welt.«
    »Wie das?«, fragte Kanam.
    »Unserer Erdmutter«, antwortete Tenzin.

    »Eine Pflanze … ein Kraut«, murmelte die Frau überrascht.
    »Es ist Mohn!«, sagte Tenzin.
    »Was?«, rief Kanam beinahe zornig. »Ihr habt unserem Kind ein Gift gegeben, das schwach und abhängig macht?«
    »Beruhige dich«, sagte Tenzin. »Nichts von dem, was die Erdmutter uns schenkt, ist schlecht. Es kommt nur darauf an, wie wir Menschen ihre Gaben anwenden. Schlucken sie Mohn aus Langeweile oder Überdruss, wird Mohn zum Gift. Aber wie könnten Kranke und Schwerverletzte ihre Schmerzen ertragen, wenn Mohn sie nicht lindern würde?«
    Kanam warf einen Blick auf das schlafende Kind.
    »Wird mein Sohn am Leben bleiben?«
    Tenzin hielt seinem Blick stand.
    »Diese Frage kann ich erst morgen beantworten.«
    Er trug den Dienstboten auf, ihr Zelt etwas abseits des Lagers aufzustellen. Die Khampa bestaunten das weiße Seidenzelt; ein solches sahen sie zum ersten Mal. Während die Männer die Pferde versorgten, setzten sich Tenzin und Longsela zu den Nomaden, die ihr einfaches Mahl mit ihnen teilten: Hammelfleisch, Tsampa und Zwiebeln. Dazu dickflüssige Dri-Milch und jede Menge Buttertee. Im Dunkeln glühte das Feuer mit einem Duft nach Wacholder. Die Nomaden benutzen Wacholder als Brennholz. Der Rauch hält Fliegen und Mücken fern und gilt als reinigend. Auch in den Klöstern wurde Wacholderrauch bei allen Kulthandlungen verwendet.
    Die Nacht war klar und kalt, ein Stern glühte in schwelendem Rot, und der halbe Mond schillerte eisblau. Als Longsela mit ihrem Vater im Zelt war, stellte sie ihm die Frage, die auf ihren Lippen brannte.
    »Pala, was ist mit dem Kleinen? Sein Bein sieht schrecklich aus! Kannst du ihn retten?«
    »Ich hoffe es«, sagte Tenzin mit einem Seufzer, der Longsela fast das Herz brach. »Er hat eine Blutvergiftung. Die modrige
Erde hat die Wunde infiziert. Ich habe ihm eine Spritze gegen Starrkrampf gegeben. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.«
    »Wären wir nicht gekommen, was dann?«
    »Noch drei oder vier Tage, und er wäre gestorben. Zum Glück ist der Junge stark. Wir müssen abwarten. Morgen kann es schon viel besser aussehen.«
    Longsela fand lange keinen Schlaf. Die Ruhe, die sie am Ende eines langen und aufregenden Tages umfing, ließ ihre Gedanken wandern. Sie hatte nur den kleinen Verletzten im Kopf; sie fühlte sich mit diesem Kind auf seltsame Weise verbunden. Es war ein Empfinden, unfassbar gleich dem ersten Windhauch in der

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