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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Dämmerung, wenn ein Beben durch die Bäume geht, bevor die Welt in kaltes Dunkel taucht. Das Gefühl rief bei Longsela Verwunderung hervor. Sie begriff weder, woher dieses Empfinden kam, noch, was es zu bedeuten hatte. Sie lag neben ihrem Vater, der längst eingeschlafen war. Und ringsum die Spiele des Schattens und des Lichts im Helldunkel des Zeltes, die friedlichen Geräusche des nächtlichen Lagers. Manchmal wieherte ein Pferd, ein Hund schlug an. Sie hörte einen Bach plätschern und aus der Ferne das Prusten und Stampfen der grasenden Yaks, bevor sie endlich in einen unruhigen Schlaf fiel.

NEUNTES KAPITEL
    A ls Longsela erwachte, zeigten sich bereits die ersten Sonnenstrahlen. Das Zelt war erleuchtet, doch Tenzin schlief noch. Longsela tastete nach ihrem Fellmantel, kroch aus dem Zelt, rieb sich die noch schweren Augen. Eigentlich hätte sie noch viel mehr Schlaf gebraucht. Sie ging durch das Lager, in dem sich die Nomaden regten und die ersten Feuer schon schwelten. Es war entsetzlich kalt. Longsela roch den Geruch der Wildnis, ein starker, berauschender Geruch. Ganz hoch oben tauchte die Sonne die Gipfel in schimmerndes Orangerot, das von Felsen zu Felsen sprang. Longsela ging zum Bach, tauchte ihre Hände ins Wasser, wusch ihr Gesicht und spülte sich den Mund aus. Das Wasser war noch eisiger als die Luft. Als es auf ihrer Haut getrocknet war, fühlte Longsela sich hellwach. Sie setzte sich abseits, löste ihre Zöpfe und kämmte sie, bevor sie ihr Haar neu flocht. Die Helligkeit nahm stetig zu, das ganze Hochtal überflutend. Der Himmel leuchtete rot wie Mohn, der ewige Schnee glühte rosig. An der Schwelle des neuen Tages empfand Longsela ein starkes Glücksgefühl. Sie sah, wie in der Ferne sich große weiße Vögel aus einem Hochmoor erhoben: Kraniche! Sie schienen aus dem Wasser hervorzusprudeln und schimmerten am Himmel wie ein Regenbogen, auf dem weiße Engel tanzten. Eine Luftspiegelung, was sonst? Aber Longsela hielt es für ein gutes Vorzeichen.
    Sie setzte sich zu den Nomaden ans Feuer. Eine junge Frau mit roten Wangen reichte ihr einen Becher Tee. Der Tee wurde mit Tsampa-Mehl und viel Salz gemischt, bis er zähflüssig
wurde. Longsela schmeckte das Getränk nicht gut; sie trank ihn trotzdem, um ihre Gastgeber nicht zu beleidigen. Der Becher war aus schwerem Silber, wie man ihn in Lhasa nur in vornehmen Häusern fand. Longsela fragte sich, woher der Becher wohl kommen mochte. Bald erschien auch Tenzin. Er setzte sich neben Longsela, die ruhig ihren Becher im Schoß hielt. Doch er lächelte nicht, war schweigsam und ganz in seinen Gedanken verschlossen, bis Alos Mutter aus ihrem Zelt trat. Ihr Name war Tesla, wie Longsela inzwischen erfahren hatte. Sie war in einen Wolfspelz gehüllt, der über ihrem Kopf eine Art Kapuze bildete. Bei Tageslicht sah Longsela, dass sie goldfarbene Augen hatte und eine zartbraune Seidenhaut. Mit einem müden Lächeln trat sie auf Tenzin zu.
    »Mein Kleiner schläft noch.«
    »Ausgezeichnet!«, antwortete Tenzin.
    Seine Augen hatten sich etwas erhellt, und Longsela freute sich. Sie konnte es kaum abwarten, den Kleinen wiederzusehen, und folgte ihrem Vater, als er etwas später zu ihm ging. Tenzin beugte sich über das schlafende Kind, berührte es jedoch nicht, sondern lauschte nur aufmerksam seinem Atem.
    »Soll ich ihn wecken?«, flüsterte Tesla.
    Tenzin bewegte verneinend die Hand.
    »Lassen wir ihn. Guter Schlaf wirkt heilend.«
    Als intensive Beobachterin außergewöhnlicher Gestalten interessierte sich Longsela für die Nomaden. Sie fand, dass sie ein hartes, doch herrliches Leben führten. Ihre Haut glänzte und hatte fast die Farbe von Kupfer. Ihre Augen waren größer als die der Stadtbewohner, ihre Nase gerade und stark, das Kinn zeigte viel Willenskraft. So jung sie noch war, hatte Longsela bereits erfahren, dass der Mensch mit seinem Leben teil hat an dem ewigen Wechselrhythmus der Natur. Die Nomaden waren sich dieser Beziehung gewiss nicht bewusst, aber sie spürten sie und unterstellten sich ihren Gesetzen. Die natürliche Auslese duldete keine Schwäche. Jeder überlebte nur dank
eigener Kraft. Vielleicht entsprang gerade dieser unbarmherzigen Zucht ihre innere Harmonie, ihre Gelassenheit? Es machte nichts, dass ihre Zelte sich bei Tageslicht voller Flecken und Risse zeigten, dass das frische Yakfleisch, das in der Sonne trocknete, Schwärme von Fliegen anzog. Longsela betrachtete die Fleischklumpen nicht ohne Ekel, obwohl sie wusste, dass die Khampa

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