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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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spontanen Appetit. Tesla führte ihm selbst den Löffel zum Mund, und die Großmutter füllte dreimal seinen Becher mit Tee. Und bei jedem Schluck, bei jedem Bissen, nickten die Frauen glücklich dazu. Als das Kind sich gestärkt hatte, untersuchte Tenzin die Wunde. Der rote Streifen war kaum sichtbar, die Schwellung des Knies zurückgegangen und das Fieber gefallen.
    »Gebt ihm zu essen und zu trinken, so viel er will«, sagte Tenzin zur Mutter des Jungen. »Ich werde noch diese Nacht bei euch bleiben, aber ich mache mir keine Sorgen mehr. Das Bein wird heilen. Die Wunde ist nicht mehr offen, eine Kruste hat sich schon gebildet. Alo braucht nur noch Ruhe. Aber der Verband muss sauber bleiben. Und wenn Alo gehen will, dann nur langsam und in der ersten Zeit an einer Krücke.«
    »Ich werde ihm eine schnitzen«, sagte Kanam. »Wie lange wird er sie brauchen?«
    Tenzin lächelte.
    »Nun, das wird er selbst am besten wissen.«
    »Wird er wieder reiten können?«, fragte Kanam. Die Frage
beschäftigte ihn mehr, als er sich anmerken ließ. Longsela, die ihn stumm beobachtete, spürte, wie empfindsam er war, trotz seines scheinbaren Gleichmuts. Sie betrachtete das glatte, braune Gesicht mit den dunkel glitzernden Augen. Da war etwas in diesem Blick, das sie bewegte. Menschen, denen der Mut angeboren war, übten eine große Anziehungskraft auf sie aus. Mit dem Gefühl einer seltsamen Freude und Erregung sah sie Kanams weiße Zähne aufblitzen, als ihr Vater fast feierlich antwortete: »Auf Ehre und Gewissen, das verspreche ich dir: Dein Sohn wird später die kräftigsten Pferde reiten können!«
    »Mögen die Götter Euch hören!«, sagte Tesla. Ihre Stimme klang wieder kräftig. Und obwohl sie viele Nächte bei ihrem Sohn gewacht hatte, schimmerten ihre Wangen wieder in sanftem Kupfergold.
    Tenzin lächelte ihr zu.
    »Du bist eine tapfere Mutter.«
    Sie verneinte mit sanftem Kopfschütteln.
    »Nein. Ich bin nur die Mutter eines tapferen Sohns!«
    Am nächsten Tag untersuchte Tenzin ein letztes Mal die Verletzung, befestigte die Stäbe und sagte, seine Hilfe würde jetzt nicht mehr gebraucht. Die Dienstboten falteten das Zelt zusammen und machten das Gepäck bereit. Kanam kam, mit seinem gesattelten Pferd am Zügel, und sagte zu Tenzin: »Ich werde Euch führen.«
    Longsela betrat das Zelt, um sich von Alo zu verabschieden. Er warf beide Arme um sie und drückte fest sein Köpfchen an ihre Schulter, als ob er sie zurückhalten wollte. Longsela hatte diese Menschen in ihr Herz geschlossen, und es fiel ihr schwer, das Lager zu verlassen. Tesla beobachtete sie mit unergründlichem Blick. Als Longsela sich aufrichtete und das Zelt verlassen wollte, zog die Khammo plötzlich die Schnur mit den Dzi-Steinen über ihren Kopf und reichte sie Longsela mit den Worten: »Diese Glückskette gehörte meiner Großmutter. Trage sie, zur Erinnerung an Alo!«

    Longsela erschrak nahezu vor diesem kostbaren Geschenk.
    »Aber das ist doch ein Familienschmuck.«
    Tesla lächelte zärtlich. Auf ihrem Antlitz lag ein seltsamer, traumbefangener Ausdruck.
    »Das Maß an Glück, das mir zusteht, habe ich bereits, denn Alo ist wieder gesund. Doch dein Leben wird ungewöhnlich sein. Das Glück wirst du noch brauchen, wenn mich die himmlischen Vögel längst zu den Göttern getragen haben.«
    Die Stimme der Khammo hatte einen fast prophetischen Klang. Ein Schauder lief Longsela über das Rückgrat. Teslas Worte waren keineswegs bildlich zu nehmen. Die Nomaden bargen ihre Toten auf Bäumen und überließen sie den Elementen und den Geiern, die sich ihren Teil holten. Es war die ursprünglichste Bestattungsform der Welt, die, mit besonderen Vorbehalten und vielen Riten, sogar in den Städten noch üblich war. Doch Longsela wies die düsteren Bilder von sich und fragte stattdessen: »Woher weißt du, dass ich Dzi-Steine liebe?«
    Da lächelte Tesla verschmitzt.
    »Dir gefallen Edelsteine sehr; deswegen bist du ja mit deinem Vater auf Reisen. Und mir fiel auf, dass du oft meine Kette angeschaut hast.«
    Longsela spürte, wie sie rot wurde.
    »Ich habe sie ja nur bewundert!«
    Dem kleinen Jungen indessen, halb aufgerichtet, entging kein Wort von diesem Gespräch. Seine Augen waren wach und voller Aufmerksamkeit. Und als Tesla freimütig auflachte, deuteten auch die Lippen des Kindes unwillkürlich ein Lächeln an.
    »Ach, du gibst es zu!«
    Longsela lachte auch, etwas befangen, während Tesla ihr die Kette über den Kopf streifte, einen Schritt zurücktrat

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