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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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still, wie sein Leben es gewesen war. Eines Morgens, als er nicht zur gewohnten Zeit zum Frühstück erschien, ging Yangzom in sein Zimmer und fand ihn tot in seinem Bett. Er war im Schlaf einem Herzanfall erlegen. Nicht einmal seine Decken waren dabei in Unordnung geraten. Longsela weinte bitterlich: Sie hatte ihrem Vater
nach wie vor nahegestanden. Die Erinnerungen kamen, freudige und wehmütige. Und immer wieder sah sie sich neben Tenzin reiten, während er von den Edelsteinen sprach, von ihrer Schönheit, von ihrer Macht. Sie vermeinte noch seine sanfte Stimme zu hören, die sagte: »Die Steine sind lebendig!« Ach, wie tief war dieser Gedanke in ihrem Herzen verwurzelt! Obwohl ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, war das Haus von andächtiger Ruhe erfüllt. Verwandte und Freunde halfen bei den Vorbereitungen zur Trauerfeier. Sie brachten Opfer und schenkten den Armen Almosen, um Verdienste für den Verstorbenen zu erwerben. Damals ließen die Tibeter ihre Toten zunächst im Haus: wie lange, das berechnete der Astrologe. Weil Tenzin viel Gutes getan hatte, bestimmte Gendün Nechun, der trotz seines hohen Alters sein Amt noch ausübte, dass der Leichnam nur drei Tage im Haus bleiben sollte. Der Verstorbene, mit wohlriechenden Kräutern gewaschen, wurde in weißen Musselin gehüllt und mit den besten Gewändern gekleidet; dazu trug er einen Kopfschmuck mit fünf Götterbildern. Während der vorgeschriebenen Zeit wurde er in der Empfangshalle aufgebahrt. Hohe Lamas, die Gebete sprachen, wachten Tag und Nacht bei ihm und verbrannten Weihrauch. Freunde und Verwandte verneigten sich vor dem Toten, brachten Geldgeschenke, Butter für die Lampen und viele Glücksschärpen für die Reise ins Jenseits. Nach drei Tagen sprach Dawa Rimpoche die Gebete, die Tenzins Seele vom Körper erlösten. Bevor der Verstorbene aus dem Haus gebracht wurde, trugen die Dienstboten kleine Gefäße mit flüssiger Butter in die Klöster und Tempel. Tenzins wertvolle Kleider wurden auf besondere Weise verpackt und wurden ebenfalls zu den Lamas gebracht. Diese legten sie vor die brennenden Butterlampen. Auf diese Weise wurde das Letzte, was von Tenzin blieb - seine Körperausdünstung -, zu den Göttern getragen. Dabei hatten manche Lamas Visionen, die sie später den Hinterbliebenen mitteilten. Tenzins Wunsch war es gewesen, im Tempel des
Klosters Tschagpori, wo er als Arzt ausgebildet worden war, eingeäschert zu werden. Als Gendün Nechun auch für diese Zeremonie die Stunde bestimmt hatte, wurde die Zeremonie abgehalten. Die Familie wohnte der Bestattung bei. Nach einer Trauerzeit von sieben Tagen wurde ein Essen in den Wohnräumen des Verstorbenen gegeben, und die dazu eingeladenen Lamas, die die Sterberiten begleitet hatten, sprachen Gebete. Noch irrte die Seele des Verstorbenen ruhelos umher, suchte ihren Weg, beklagte Verluste und bangte um die Zukunft. Bis zum neunundvierzigsten Tag wurden an jedem siebten Tag Gebete gesprochen. Dann erst überquerte die gestärkte Seele den Fluss, der das Diesseits vom Jenseits trennte. Mit wachen Augen und scharfen Sinnen ausgestattet, streifte der Verstorbene endlich seine Vergangenheit ab, trat in das neue Leben ein, das der barmherzige Buddha ihm zeigte.
    Damit war die Trauerzeit vorbei. Das gewohnte Leben ging weiter. Nur die Witwe verbrachte jetzt viel Zeit bei der Andacht, besuchte verschiedene Wallfahrtsorte. Sie wurde sehr fromm, was Longselas Traurigkeit verstärkte. Sie hatte nicht nur ihren Vater verloren. Ihre Mutter, die so tatkräftig gewesen war, die so gern gesungen und musiziert hatte, gab es ebenfalls nicht mehr. Zurück blieb eine stille, in sich gekehrte Frau, die selten von Herzen lachte.

VIERZEHNTES KAPITEL
    L ongselas zweites Kind war ein Junge. Diesmal plagte sie sich viele Stunden lang und hatte große Schmerzen, sodass man einen Arzt aus dem Krankenhaus rufen musste. Endlich kam das Kind zur Welt, wohlbehalten und kräftig, doch die Dienstboten flüsterten, dass ein Kind, das seine Mutter schon bei der Geburt verletzte, ihr auch später noch Kummer bereiten würde. Der kleine Kelsang schrie auch viel in den ersten drei Monaten, als ob die schwere Geburt ein Trauma in ihm wachgerufen hätte. Dann wurde er jedoch recht still und brav. Er war ein freundliches Kind, das viel lächelte und alles in seiner Umgebung sehr aufmerksam beobachtete. Longselas drittes und letztes Kind - wiederum ein Mädchen - wurde mit den ersten Knospen des Frühlings geboren. Auch diesmal

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