Das Haus der Tibeterin
Wohlstand, reich gemacht. Paldor selbst besaß kein Vermögen - eigentlich besaß er nichts außer seine Anmut, seiner Güte und Klugheit. Er kannte sich mit Juwelen nicht im Geringsten aus, lernte aber schnell und gab Longselas Handelsbeziehungen neue Impulse. Interessierten sich Ausländer für tibetische Juwelen, hatte Longsela bisher ihre Schreibarbeit selbst erledigt. Jetzt nahm ihr Paldor diese Arbeit ab, und er machte sie besser. Beide Eheleute pflegten eine Partnerschaft, die in ihrer Zeit und in vielen Ländern noch ungewöhnlich war.
Ein Jahr später machte Longselas erste Schwangerschaft ihr Glück vollkommen. In der ersten Zeit unternahm sie nach wie vor ihre Ausritte zu der Türkismine, obwohl die Gegend infolge der politischen Wirrnisse als unsicher galt. Jo-Jo war
alt und schwerfällig geworden. »Genau das richtige Pferd für eine werdende Mutter!«, meinte Paldor, der nie von ihrer Seite wich. Longsela fühlte sich gut, kämpfte nur selten mit Übelkeit oder Schwindel. Trotzdem trug sie stets ein Schmuckstück aus Diamant - einen Ohrclip, eine Brosche oder einen Ring -, weil Diamanten Schwangere vor Stürzen oder Verletzungen bewahrten. Als sie unbeweglicher wurde, stieg sie nicht mehr in den Sattel, unternahm jedoch Pilgerspaziergänge rund um den Jokhang-Tempel, brachte den Mönchen Geld und Geschenke, damit sie Gebete für eine glückliche Entbindung sprachen.
Inzwischen sammelte sich das chinesische Heer an der östlichen Grenze. Die Reiternomaden ließen sich die Invasion nicht bieten, und aus den anfänglichen Scharmützeln wurden erbitterte Kämpfe. Doch die Regimenter rückten unentwegt vor. Und bald nach der Krönung des jungen Dalai-Lama fiel die Provinz Chamdo in chinesische Hände.
Das Gebiet war riesengroß, die Nachrichten sickerten nur sparsam durch. Haarsträubende Geschichten gerieten in Umlauf, man sprach von Zerstörungen und Massenhinrichtungen. Die Leute waren in großer Sorge, aber in Lhasa selbst war vorerst noch alles ruhig. Wie es in jener Zeit üblich war, wurde Longselas Kind zu Hause geboren. Eine Hebamme kam und unterwies die Kammerzofen, die noch sehr jung waren, in den wichtigen Dingen. Die Geburt verlief ohne Schwierigkeiten. Longsela presste das Kind wunderbar schnell und fast ohne Schmerzen aus ihrem Bauch. Es war ein Mädchen, dem sie zu Ehren der Schutzgottheit den Namen Lhamo gaben. Paldor war von Anfang an ganz vernarrt in das Kind. Er war es, der das Baby zum ersten Mal badete und es in die vorgewärmte Wiege legte. Und kaum dass die Kleine ihn von den anderen unterscheiden konnte, sprach er mit dem Kind in liebevollem, gleichmäßig-heiterem Ton, trug es herum und ging mit ihm spazieren. Die Schwiegermutter und die gerührten Großeltern schwankten zwischen Verwunderung und Anerkennung: Das
Verhalten des junge Vaters war ebenso ungewöhnlich wie vorbildlich. Longsela indessen stillte ihre Kleine nur in den Wintermonaten. Sobald der Frühling vor der Tür stand, sehnte sie sich nach ihrem Mann und nach den Fundstellen in den Bergen, wo sie mit wachem Spürsinn die schönsten Gemmen aushob. Sie fand für das Baby eine vertrauenswürdige Amme, und die kleine Lhamo blühte wie eine Frühlingsblume. Den Rat des Astrologen getreu ritten sie immer gemeinsam. Es war ihnen so zur Gewohnheit geworden, dass einer sich ohne den anderen ungeschickt und hilflos vorkam. Oft, wenn sie über die Hochtäler ritten, fing Paldor an zu singen, und seine klangvolle, heitere Stimme verband sich mit dem Wind und verlor sich in der Weite. Seine Lieder waren Reiterlieder, die auf den Flügeln ihrer Melodien die Sehnsüchte Longselas begleiteten und mit sich entführten. Warum fühlte sie sich oft so traurig? Nicht einmal sie selbst wusste es. Nach Beendigung ihrer Reise erledigte Paldor alle Korrespondenz, die sich inzwischen angesammelt hatte, und machte seine Sache so geschickt und überlegen, dass er mit dem Handel von Edelsteinen beträchtliche Gewinne erzielte. In Krisenzeiten galt Schmuck als sichere Kapitalanlage. Paldor und Longsela ahnten, dass ihnen die Zukunft Böses verhieß. Sie pflegten ihre Kundenkontakte, indem sie sich oft ins Ausland begaben. Sie reisten nach Indien, Nepal, Thailand, Macao und Hongkong. Sogar in London und Paris verbrachten sie einige Wochen. Sie suchten dort Händler und Juweliere auf und schufen sich einen großen, internationalen Freundeskreis.
Ungefähr um diese Zeit starb Tenzin. Er war ein Mann, der still gelebt hatte, und sein Tod war so
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