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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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Er wurde von einem Leuchtstreifen begleitet, der seltsam flackerte. Die erschrockenen Kinder riefen nach den Eltern, die kamen und sie beruhigten. Es sei nur ein Komet, das abgebrochene Stück eines Sterns.
    »Ein Komet zieht nahe an der Erde vorbei«, sagte Longsela. »Der Kopf ist aus Eis, Steinen und Staub. Und der Schweif aus Gas und Staubwolken.«
    »Woher weißt du das, Amla?«, fragte Lhamo, die wirklich große Angst hatte.
    Longsela zeigte ein kleines, wehmütiges Lächeln.
    »Von wem wohl, wenn nicht von eurem Großvater? Im Erde-Maus-Jahr - das war 1948, und ihr wart noch gar nicht geboren -, da erschien ein viel größerer, der ganz unheimlich aussah.«
    »Wie sah er denn aus?«, rief Kelsang.
    »Wie ein großer Kopf mit Flammenhaar, das über die Berge strich. Alle Leute waren sehr erschrocken.«
    »Du auch?«, fragte Lhamo.
    »Ich auch. Aber dein Großvater erklärte mir alles ganz genau. Wir beobachteten den Kometen, der kleiner und blasser wurde. Und bei Sonnenaufgang war er verschwunden.«
    »Ich will das sofort Dakini erzählen!«, rief Sonam. »Sonst hat sie Angst und läuft weg!«
    Bevor man sie zurückhalten konnte, griff sie nach ihrer Felljacke und rannte hinaus. Paldor und Longsela tauschten einen besorgten Blick. Und Paldor sagte zu den Kindern: »Bleibt hier. Ich gehe und hole sie.«
    Draußen standen die Dienstboten in aufgeregten Gruppen. Andere Leute waren auf die Dächer gestiegen, schrien
und klapperten mit Töpfen, um den Kometen fortzujagen. Aus den Heiligtümern klang der Bittgesang der Mönche, die Lhasas Schutzgötter um Beistand anflehten. Paldor fand Sonam in den Stallungen, wo die Knechte alle Mühe mit den erregten Pferden hatten. Doch Sonam stand im warmen Stroh, ganz eng an Dakini gepresst, und sprach Worte zu ihr, die sie von den Nomaden auf dem Marktplatz gelernt hatte. Das Fell der Stute war verklebt, ihr Maul nass vor Schaum. Sonam rieb sie mit einer Decke ab, als Paldor zu ihr trat und ihr befahl, sofort wieder ins Haus zu gehen. Sonam gehorchte, ihr hübsches Gesicht finster verzogen. Als sie wieder im Haus waren, sagte Paldor: »Du hast dich in Gefahr begeben. Die Stute hätte dich verletzen können.«
    Sonam sah ihn an, mit dieser Falte zwischen den Augen. »Du meinst, Dakini könnte mir Böses tun? Aber nein doch! Niemals!« Ihr eigensinniger Ausdruck machte es Paldor unmöglich, ihr nicht zu glauben. Ihm war klar, dass er Sonam nach Belieben in den Stall laufen und sich ihrer Stute so nähern lassen musste, wie sie es selber wollte. Sie besaß Macht über die Pferde. Das hatte man, oder man hatte es nicht. Es war etwas Angeborenes.
    Sie wollte Tierärztin werden, erzählte sie jedem, der es hören wollte, nachdem sie von ihren Eltern erfahren hatte, dass es im Ausland diesen Beruf gab. Tibeter liebten ihre Tiere sehr, doch wurden diese krank, kannte man nur dürftige Heilmittel. In ihren jungen Jahren wusste Sonam ebenso viel über die Pferde wie ein erfahrener Pferdeknecht. Die Eltern fanden Sonams Berufswunsch zwar ausgefallen, aber durchaus nützlich. Für die Landbevölkerung war jedes Tier wertvoll. Paldor sagte dazu, er würde sie unterstützen, unter der Bedingung allerdings, dass sie besser lernte. Sonam hatte es ihm auch versprochen.
    Das Erscheinen eines Kometen galt für die Tibeter als Vorzeichen einer Gefahr. In alten Büchern wurden Kometen als
unheilbringend geschildert. Und tatsächlich erzählten die Dienstboten einige Tage später, dass bei einem Bauern ein Yak-Bulle mit zwei Köpfen geboren worden war, der aber kurz darauf starb. Doch die unheimlichen Zeichen mehrten sich: In der Nacht zum 14. August stürzte eine wuchtige Säule am Fuß des Potala zu Boden und zerbrach. Und am folgenden Tag war es plötzlich, als ob die Erde unter den Füßen der Menschen rollte; es war ein Schwanken, ein Erschauern. Die Wände rumpelten und zitterten, Risse klafften in den Mauern. Ein gewaltiges Brummen wuchs aus Himmel und Erde, lauter als die Schreckensschreie der Menschen und das Poltern der Steine, die sich lösten. Im Osten leuchtete der Himmel gespenstisch auf; es war wohl eine Art Wetterleuchten, hervorgebracht durch die explosionsartige Energie des Erdbebens. Lhasa kam mit geringen Zerstörungen davon. Anders in Südtibet, wo sich die Erde wie ein wütendes Pferd schüttelte, wo gewaltige Bauten und Klöster, die der Mensch vor Jahrhunderten aus dem Boden gestampft hatte, von dem Erdbeben in den Zustand ihrer Anfänge zurückgeschleudert wurden. Ganze

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