Das Haus der Tibeterin
Nomadenkind. Sie war ein kleines, robustes Mädchen mit einem etwas dicken Kopf. Ihre dichten Augenbrauen, Kennzeichen eines starken Willens, wuchsen fast über ihrer Nase zusammen. Ihr Haar war dunkelbraun und gelockt, was das Frisieren für sie stets zur schmerzhaften Prozedur machte, galt doch gelocktes Haar für ein Mädchen als unfein. Sie hatte ein
leicht abgeflachtes Profil und tiefschwarze Augen mit außergewöhnlich großen Pupillen. Sie war eigensinnig und rechthaberisch, dabei aber recht edelmütig. Man fand sie stets auf der Seite der Schwachen, zum Kampf mit irgendwelchen Übeltätern bereit. Die Schule liebte sie ganz und gar nicht, sie schlug auch freiwillig nie ein Buch auf. Aber sie glaubte an viele Märchen und Legenden, zum Beispiel, dass die Menschen sich in Tiere verwandeln konnten und umgekehrt. Das war für sie eine ganz feste Überzeugung. Sie konnte ein Ausbund von Fröhlichkeit sein und sich dann wieder - fast wie ein krankes Tier - in dumpfes Brüten zurückziehen. Sie schien Zugang zu einer Welt zu besitzen, die weit abseits lag von der Wirklichkeit. Die Pferde hielt sie für ganz außergewöhnliche Geschöpfe; sie sprach zu ihnen, wie sie zu Geschwistern gesprochen hätte. Sie trieb sich stets in den Stallungen herum, überwachte die Knechte, die den Pferden ihre Streu und ihre Nahrung gaben. Sie hatte auf Jo-Jos Rücken reiten gelernt, aber der tapfere kleine Rappe war gestorben. Nun ritt Sonam seine Tochter Dakini - Fee -, deren Mähne, dunkelbraun und gelockt, ihrem eigenen Haar glich. Dakini war mutwillig und lebhaft; ihre Augen hatten den wachsamen Glanz, der zeigt, dass ein Tier gefährlich werden kann. Sonam ritt sie schon mit acht ohne Sattel und Zaumzeug. Die Eltern machten sich Sorgen, aber die Stute hatte Sonam in ihr starkes Herz geschlossen und warf sie niemals ab, wie sie das bei einem unerfahrenen Reiter ohne Weiteres getan hätte. Im Familienkreis benahm sich Sonam recht gut und wohlerzogen, obwohl Longsela und Paldor dann und wann hörten, wie sie sich in der derben Sprache der Pferdeknechte ausdrückte. War sie wütend, stieß sie Schimpfworte aus, die beim »Sho« - einem ordinären Würfelspiel - gebräuchlich waren und auf keinen Fall in den Mund eines Mädchens gehörten. Longsela und Paldor zogen es vor, darüber zu lachen. Beide vertrauten einander an, dass Sonam mit all ihren Widersprüchen ihr Liebling war,
doch hüteten sie sich wohl, sie gegenüber den Geschwistern zu bevorzugen.
Schon als Kleinkind war Sonam von Longselas Dzi-Steinen fasziniert gewesen. Sie hatte an der Kette gezogen und an den Steinen gelutscht. Als sie größer wurde, wollte Longsela ihr eine Freude machen. Sie suchte einige Dzi-Steine aus, reihte sie an einer Lederschnur auf und schenkte sie dem kleinen Mädchen. Sonam bedankte sich artig und trug auch die Kette, bis Longsela eines Tages, als sie ihrer Tochter beim Ankleiden half, erstaunt fragte: »Wo sind denn deine Dzi-Steine? Du weißt doch, dass du sie Tag und Nacht tragen musst.«
Da zeigte sich zwischen Sonams Augen eine Falte, etwas wie ein frühreifes Runzeln. Longsela kannte diese Falte gut. Beim Baden im Fluss, erzählte das kleine Mädchen, sei die aufgeweichte Lederschnur gerissen.
»Die Steine sind ins Wasser gefallen. Ich habe die Luft angehalten und bin getaucht, ein paar Mal ganz tief. Aber ich konnte sie nicht mehr finden.«
Sie sprach mit großem Nachdruck, aber die blanken Augen sahen an den Augen ihrer Mutter vorbei. Longsela dachte sich ihren Teil, aber sie wollte Sonam keinem Verhör unterziehen, das beide verletzt hätte. Und so sagte sie nur: »Das ist aber sehr schade. Ich hatte jeden einzelnen Stein für dich ausgesucht.«
Das Mädchen senkte die Wimpern, die dicht und schwarz wie Holzkohle waren.
»Es tut mir ja auch sehr leid, Amla. Aber es ist ja nicht so schlimm. Die Steine waren ja nicht so schön wie deine.«
Damit war der Vorfall fürs Erste aus der Welt geschafft. Außerdem schien Sonam sich nicht mehr für Schmuck zu interessieren. Sie sprach auch nicht mehr davon, dass sie die Kette ihrer Mutter haben wollte. Als einzigen Schmuck trug sie einen Silberring mit einem Türkis, so bescheiden wie der Ring eines Bauernmädchens.
Eines Nachts im Juli erwachten die Kinder und sahen ihr Zimmer in ungewöhnlich helles Licht getaucht. Draußen waren aufgeregte Stimmen zu hören, und in den Stallungen wieherten die Pferde. Die Geschwister liefen ans Fenster und sahen über den Bergen einen seltsamen Stern.
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