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Das Haus der Tibeterin

Titel: Das Haus der Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica Cesco
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verlief die Niederkunft nicht ohne Schwierigkeiten. Longsela hatte noch Narben von Kelsangs Geburt. Der zu Rate geholte Arzt meinte, dass Longsela danach wohl nicht mehr in der Lage sein würde, weitere Kinder auf die Welt zu bringen. Longsela und Paldor war das nur recht; sie hatten wenig Sinn für eine Großfamilie, obwohl für die Tibeter viele Kinder der höchste Stolz auf Erden waren.
    Das kleine Mädchen wurde Sonam genannt. Sie war nicht hellhäutig wie ihre Geschwister, sondern aprikosenfarben. Ihre Wangen hatten einen kupfernen Schimmer. Sie schien auch schwerer zu sein als Longselas andere Kinder. Und obgleich ihre Augen zunächst von jenem verschwommenen Blau waren, das man bei Neugeborenen immer sieht, veränderten sie bald ihre Farbe und wurden tiefschwarz.

    »Sie sieht aus wie ein Khampa-Mädchen!«, sagte Paldor lachend.
    Drei Kinder im Haus, die von Jahr zu Jahr größer wurden, brachten viel Trubel und unkomplizierte Fröhlichkeit mit sich und entschädigten Yangzom für den Verlust ihres Mannes. Sie war inzwischen über sechzig, aber aufrecht und majestätisch zeigte sie wieder ihr anmutiges Lächeln. Die Schwiegereltern aus Shigatse nahmen oft die weite Reise auf sich, um die Familie zu sehen. Sie fanden, dass ihre Enkelkinder die schönsten, intelligentesten und mutigsten seien, die sie in ihrem Leben gesehen hatten. Dies bedeutete, dass die Geschwister maßlos verwöhnt wurden. In jenen Jahren strahlte das Haus der Weiden eine lebhafte, jugendliche Freude aus, die jeder Besucher spüren musste. So verging die glückliche Zeit in Windeseile, wie es Longsela später vorkommen sollte. Nach wie vor war sie mit Paldor viel unterwegs, kaufte und verkaufte Juwelen. Beide sahen sich auf seltsame Weise ähnlich. Sie hatten die gleiche Art, den schmalen Kopf hoch zu tragen, den gleichen selbstbewussten, schwerelosen Gang. Ebenso übereinstimmend bewegten sie ihre Augen und Lippen, wobei sie die Worte mit schönen, ausdrucksvollen Gesten betonten. Fremde, die die Eheleute zum ersten Mal sahen, konnten zunächst meinen, sie hätten es mit Geschwistern zu tun. In ihrer Zweisamkeit eingeschlossen, von ihrer Arbeit in Anspruch genommen, beobachteten Longsela und Paldor die politischen Ereignisse gleichwohl sehr aufmerksam. Ihr Beruf hing schließlich davon ab, ob Krieg oder Frieden herrschte, ob die Kunden Angst hatten oder nicht. Die ganze Welt schien in Aufruhr; Lhasa war wie das Auge im Zentrum des Orkans, doch für wie lange noch? Inzwischen wuchsen die Kinder heran, entwickelten recht eigenwillige Charakterzüge. Äußerlich zeigten sie zwar das freundliche, nachgiebige Wesen des Vaters, trugen aber in sich den starken Willen, der ein Merkmal der Mutter war. Bei Lhamo und Sonam war es schon früh ersichtlich, während Kelsang
reizend lächelte und seine artigen Manieren den Erwachsenen abguckte. Alle drei Kinder besuchten inzwischen eine Privatschule, die von aufgeklärten Mönchen geleitet wurde. Sie wurden täglich von einem Dienstboten zum Unterricht begleitet und manchmal auch von der Großmutter selbst, die dabei die Gelegenheit wahrnahm, verschiedene Einkäufe zu tätigen. Die Schüler, Jungen und Mädchen, kamen zumeist aus wohlhabenden Häusern, obwohl auch arme, aber begabte Kinder unterrichtet wurden. Die Mönche erhielten für ihre Arbeit keinen Lohn, sondern lebten von den mehr oder weniger großzügigen Spenden der Eltern. Sie waren fast alle etwas ungehorsam, diese Schüler, weil sie in ihren Familien verhätschelt wurden oder das Stillsitzen nicht gewohnt waren. In seiner Klasse wurde Kelsang sehr gelobt, weil er gut zuhörte und gern lernte. Er zog aus den Unterrichtsstunden größeren Nutzen als seine Mitschüler; wurde eine Prüfung abgehalten, richteten die Lehrer ihre Frage mit Vorliebe an ihn. Lhamo, die schon älter war, war freundlich und gutherzig und zeigte schon früh einen wachen Verstand. Sie war sehr schön, mit ihrem fein geschnittenen Gesicht, ihrer samtigen Haut. Ihre Augen besaßen schon als kleines Mädchen einen silbernen und leuchtenden Glanz. Auch sie lernte mit großer Leichtigkeit; sie besaß ein außergewöhnliches Gedächtnis, alles, was sie sah und hörte, prägte sich tief in ihr ein. Sie hatte wenige gleichaltrige Freunde, weil sie sich besser im Kreis der Erwachsenen gefiel. Bereits als Zwölfjährige zeigte sie eine für ihr Alter weitaus größere Frühreife als die meisten anderen Mädchen.
    Sonam, die Jüngste, sah tatsächlich wild und braun aus, wie ein

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