Das Haus der Tibeterin
hatten und sogar ihre Frauen mitbrachten, die in Lhasa mit Schmuck und schönen Kleidern glänzten. Inzwischen richteten die chinesischen Befehlshaber in einem großen Gebäude eine Schule ein, damit die Chinesen Tibetisch lernen konnten. Tibeter, die ihrerseits Chinesisch lernen wollten, erhielten ihr Essen kostenlos, sodass auch ärmere Leute unterrichtet werden konnten. Die Verantwortlichen gaben sich große Mühe, Lehrkräfte zu finden, die beide Sprachen gut beherrschten. Und eines Tages, als Longsela über den Barkhor ging, wandte sich eine Chinesin mit kurzen Haaren, in grauen Hosen und dunkler Windjacke, zu ihr um und kam auf sie zu.
»Entschuldigen Sie! Sind Sie nicht Longsela?«
Longsela sah sie an. Das Gesicht der Frau war ungeschminkt und zeigte ein scheues Lächeln, das auf Wiedererkennen hoffte.
»Ja, natürlich!«, rief sie. »Sie sind doch Amelia! Wir haben uns in Macao kennengelernt!«
Die andere lächelte erfreut. Ihre Augen waren groß und glänzend. Doch sie war ganz anders, als Longsela sie in Erinnerung hatte.
»Du lässt dir jetzt das Haar schneiden?«
»Ja, es wurde mir lästig. Ich bin froh, dass du mich trotzdem erkannt hast. Gefalle ich dir?«
Longselas Augen ruhten auf Amelias Gesicht, das von wirren Strähnen umrahmt war. Sie war etwas unglücklich.
»Kurzes Haar ist viel praktischer«, erwiderte sie so herzlich sie konnte.
»Täglich eine Stunde vor dem Frisiertisch, das geht nicht mehr«, sagte Amelia. »Ich habe nur noch einen Taschenspiegel.«
Sie lachte, freute sich überströmend und schüttelte Longsela beide Hände. Einen Augenblick standen sie und sahen einander an, dann schob Longsela den Arm unter den ihren.
»Komm! Wir gehen zu mir nach Hause und trinken einen Tee. Paldor wird sich auch freuen. Und du sollst meine Kinder kennenlernen. Ist Francisco auch hier?«
»Ja, aber er heißt jetzt An Yao«, sagte die Freundin. »Und ich heiße wieder Ling. Du musst mich nicht mehr Amelia nennen wie früher.«
Sie hatten sich in Macao kennengelernt, auf einem Cocktailempfang bei einem Schmuckhändler, und sofort Sympathie füreinander empfunden. Amelia und Francisco Wong - wie sie früher hießen - stammten beide aus Schanghai und hatten, als sie Jahre zuvor zum katholischen Glauben übergetreten waren, christliche Namen angenommen. Macao war portugiesische Kolonie. Amelia war Dozentin für Englisch. Ihr Mann war Ingenieur, an vielen maßgeblichen Projekten beteiligt. Ihr Gastgeber war Halbportugiese und lebte in einem eleganten Viertel. Francisco hatte die statischen Berechnungen für sein neues, luxuriöses Geschäftshaus an der Hauptverkehrsstraße gemacht. Die Bewohner Macaos hatten viel Geld, bauten, feierten und kauften. In den großen Hotels, wo die Spieltische standen, begegneten sich reiche Leute und solche, die es werden wollten, Bankiers, Makler, Touristen und Geschäftsleute, Zuhälter und Polizeispitzel und jede Menge Diebe. Der Schmuggel blühte und der Schmuckhandel auch. Longsela und Paldor hatten üppig gegessen, große Summen verdient, sie beim Fantan-Spiel wieder verloren und sich herrlich dabei amüsiert. Francisco und Amelia benahmen sich, als gehörten auch sie zu dieser schillernden Welt. Sie kritisierten nichts und führten ein sorgloses Leben. Doch in Longselas Salon, als
sie Süßigkeiten knabberten und Jasmintee tranken, den es in Lhasa jetzt zu kaufen gab, erzählte Ling, was sie nach Tibet geführt hatte. In den Kolonien waren sie nicht gleichberechtigt, sondern Chinesen. Es gab viele Vorurteile; sie hatten kein politisches Stimmrecht. Ihr Sohn und ihre Tochter waren erwachsen und wollten nach Amerika. Sie glaubten an die Freiheit, ihre Eltern an den Fortschritt. Sie verfolgten aufmerksam alles, was in China geschah, den Krieg gegen imperialistische Unterdrückung und Korruption. Und dann wurde An Yaos jüngerer Bruder im Bürgerkrieg von Kuomintang-Beamten erschossen, die ihn für einen anderen hielten, was beide rückhaltlos auf Mao Tse-tungs Seite brachte.
Sie waren stolz auf die großartigen Veränderungen, die auf dem Festland geschahen. China war so lange ein geknechtetes Land gewesen! An Yao und Ling waren sicher, dass die neue Regierung wirklich all das Gute tun würde, was sie angekündigt hatte. Ihr Nationalstolz, gepaart mit einem starken sozialen Gewissen, hatte die Wongs veranlasst, ihre Kompetenzen in den Dienst des neuen China zu stellen. Sie hatten alle ihre Ersparnisse dem Nationalen Fonds gespendet und sich freiwillig zur
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