Das Haus der Tibeterin
Ortschaften wurden mit ihren Bewohnern, ihren Schafs- und Yakherden in aufklaffende Erdspalten gerissen. Die Erde stand schräg, warf die Fliehenden zu Boden. Straßen bäumten sich zu Wellen, Wege wurden unter Steinen begraben. In der Provinz Assam veränderte der Fluss Brahmaputra seinen Lauf, überschwemmte die Felder und Dörfer mit einer gewaltigen Flutwelle. Wie viele Menschen ums Leben kamen, wurde nie bekannt; es mussten mehrere Tausende sein, die sofort tot waren oder später ihren Verletzungen erlagen. Auf die Nachrichten von Radio Lhasa, die in tibetischer, chinesischer und englischer Sprache gesendet wurden, war wenig Verlass. Außerdem besaßen nur wenige tibetische Familien ein Radio; die Zeitungen kamen erst Wochen später. Und kaum war das Erdbeben vorbei, fielen die Chinesen nahezu kampflos in die Provinz Shingeai ein. Sie hatten den Zeitpunkt gut gewählt.
In Tibet herrschte Angst, Ratlosigkeit und ein großes Drunter und Drüber. In Shingeai befand sich das berühmte Kloster Kumbum, wo Tagshel Rimpoche, der älteste Bruder des Dalai-Lama, Abt war. Die Chinesen versuchten diesen heiligen Mann für sich zu gewinnen, damit er seinen jüngeren Bruder beeinflusste. Tagshel Rimpoche, der viel Erfahrung besaß, gab sich diplomatisch, zeigte ihnen aber die kalte Schulter.
Unerbittlich spitzte sich die politische Lage zu, immer enger zogen die Chinesen ihren eisernen Ring um Tibet. Und so ging das Leben weiter, fast wie gewohnt, obwohl man in Lhasa immer mehr Chinesen begegnete - auch Militär. Der Schatten des Bösen glich jenen großen, winterlichen Wolken, die von dem dunklen Bergkranz emporstiegen. In Longselas Leben veränderte sich kaum etwas; das Glück schien der Familie hold zu sein, doch immer öfter und mit Bangen dachte sie an die warnenden Worte des Astrologen. Oh, sie war nicht furchtsam und glaubte fest an die Vorsehung der Götter! Aber ihr Herz war mit Unruhe erfüllt; die schlimmsten Gedanken kamen ihr in den Sinn. Auf die eigene Mutter war kein Verlass mehr. Yangzom war träge im Denken geworden, eine reiche Frau ohne Kraft und ohne Willen. Gerade sie gab Longsela am meisten zu denken. Sie konnte nur auf Paldor zählen. Je unruhiger sie wurde, desto mehr liebte er sie. Beide teilten sich die Erziehung der Kinder. Sie hatten erkannt, dass sie kaum noch etwas von draußen, von der Welt, die durch die Menschen beunruhigt wurde, erwarten konnten, sondern alles nur von sich selbst und vom Geheimnis ihrer Liebe.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
V or Jahren hatte man die Chinesen aus Lhasa gewiesen; die Tibeter hatten sich in falscher Sicherheit gewiegt und geglaubt, dass sie ihre unliebsamen Gäste losgeworden seien. Jetzt waren die Chinesen wieder da, und zwar in großer Zahl. In knapp einem Jahr befanden sich bereits über Zehntausend in Lhasa, Krankenschwestern, Ärzte, Lehrer, Händler und Soldaten. Sie mieteten oder beschlagnahmten Häuser, verrichteten ihre Aufgaben, aber mischten sich wenig unter die Bevölkerung. Sie beachteten nicht die ablehnende Haltung vieler Tibeter, überhörten Beleidigungen, verhielten sich diszipliniert und freundlich. Von offizieller Seite hieß es, sie seien gekommen, um dem tibetischen Volk zu helfen, und würden wieder heimkehren, sobald sich die Lage gebessert habe. Obwohl es hieß, dass die Kommunisten gottlos seien, schienen sie die Religion zu achten: Sie spendeten Geld für die Klöster und ehrten Seine Heiligkeit, sobald er sich draußen zeigte, mit einer fröhlichen Militärkapelle, die neben der kleinen tibetischen Armee Aufstellung nahm. Niemand wollte den Chinesen freiwillig helfen - man traute ihnen einfach nicht -, aber es gab Tibeter, die aus ihrer Anwesenheit Nutzen zogen. Die Chinesen durften keine Nahrungsmittel mitbringen und kauften alles für ihren Eigenbedarf auf dem Markt ein. Die Händler ließen die Preise steigen, machten gute Gewinne dabei. Weil die Chinesen über ausreichend Geld verfügten, hatten sie immer genug zu essen, bewirteten freundlich arme Leute, ja sogar für verarmte tibetische Beamte und Mönche hatten
sie Platz an ihrem Tisch. Doch Longsela und Paldor meinten, es sei viel Heuchelei dabei. Die Chinesen sprachen immer über die Vorteile des Kommunismus, der alle Menschen gleich machte. Aber auch der dümmste Tibeter konnte sehen, dass es zwischen einfachen Soldaten und Offizieren große Unterschiede gab. Die Soldaten waren alle blutjung, lebten entbehrungsreich und mussten hart arbeiten, während die Offiziere viele Dienstboten
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