Das Haus der Tibeterin
Arbeit gemeldet.
»Weiß der Himmel, warum die beiden hierhergekommen sind!«, dachte Longsela. Sie zeigte offen ihr Erstaunen, und Ling erzählte, dass sie von Anfang an nach Tibet wollten.
»Weißt du noch? Du und ich, wir haben uns doch auf Anhieb gemocht, und Paldor und An Yao haben so viele schöne Gespräche geführt. Wir waren so froh, als unser Antrag bewilligt wurde! Wir dachten, dass die Regierung es gut mit uns meinte.«
»Aber warum habt ihr uns denn nicht geschrieben?«, fragte Longsela. »Wir hätten euch doch behilflich sein können!«
»Ja, das wäre schön gewesen«, sagte Ling etwas kummervoll. »Aber wir haben erst im letzten Augenblick erfahren, welcher Stadt wir zugeteilt wurden.«
Sie waren vor fünf Tagen angekommen und standen noch unter Schock. Man hatte ihnen ein Zimmer in einer Mietskaserne zugewiesen, ohne Heizung und Licht. Die papierverklebten Fenster schützten kaum vor Wind und eisiger Kälte. Die Aborte befanden sich in einem Hof.
»Es ist schrecklich, aber es macht auch Spaß«, sagte An Yao mit übertriebener Fröhlichkeit, als sie ein paar Tage später im Haus der Weiden zum Essen eingeladen waren. »Am Anfang waren wir etwas niedergeschlagen, aber jetzt nicht mehr. Wir sind ja nicht aus Porzellan. Und hier gibt es ja so viel zu tun!«
An Yaos Mund zeigte eine lächelnde Unbestimmbarkeit. Er und seine Frau hatten alles aufgegeben und bereuten es nicht, verzichteten gern auf Bequemlichkeiten, die ihnen plötzlich so unbedeutend erschienen. Das Wunderbarste, was sie erwarten konnten, war das, was jetzt im Mutterland wuchs, der gewaltige, Aufsehen erregende Frühling einer Nation.
»Ich habe nicht gedacht, dass dies zu meinen Lebzeiten noch geschehen würde«, sagte Ling mit glücklichem Lachen.
Sie war knapp über vierzig, anmutig und gepflegt, mit einem gutmütigen Leuchten in den Augen. Ihr Dekolleté war etwas erschlafft, doch sie hatte teure Creme benutzt. Ihre Haut, die schlechtes Essen, Wind und eisige Kälte bald verunstalten würden, schimmerte kaum weniger weiß und glatt als die Perlen, die sie einst um den Hals trug und vor der Abreise ihrer Tochter geschenkt hatte.
An Yao erklärte, dass Tibet große politische, militärische und wirtschaftliche Probleme bevorstanden.
»Aber China wird Tibet helfen, ein starkes und modernes Land zu werden. Wir dürfen nie vergessen, dass wir Privilegierte sind.«
Longsela und Paldor bestritten das nicht. Viele Tausende gab es in Tibet, die in Armut lebten, die weder lesen noch schreiben konnten und kaum Zugang zu einer medizinischen Versorgung hatten. An Yao und Ling hatten wie so viele westlich
erzogene, intellektuelle Chinesen ihre Wahl getroffen. Sie wurden traurig, als sie feststellten, dass ihre Hingabe falsch gedeutet wurde. Sis erlebten mit Kummer, wie die Tibeter bei ihrem Anblick in die Hände klatschten, was kein Beifall war, sondern eine Abwehrgeste gegen Dämonen. Sie wussten auch, dass die Tibeter die Chinesen »Tenda Gyamar« nannten, die roten Feinde der Religion. An Yao und Ling nahmen es in Kauf. Ihr soziales Gewissen war stark.
»Der Bürgerkrieg war entsetzlich«, seufzte Ling. »Es gab so viele Tote. Wie viele, ist noch nicht bekannt. Die Zählungen sind nicht abgeschlossen.«
Paldor, der die Nachrichten von »All Radio India« hörte und die »Times« von London las, sagte vorsichtig: »Man spricht von Millionen.«
An Yao sprach mit Ruhe, protestierte aber.
»Das ist wohl übertrieben! Es sind unsere Feinde, die solche Lügen verbreiten. Aber der Krieg hat ja mehr als zehn Jahre gedauert. Einige Tausend werden es wohl sein.«
Longsela und Paldor äußerten sich nicht dazu. Ihren Freunden vertrauten sie vollkommen, und an deren Ehrlichkeit war nicht zu zweifeln. Aber möglicherweise waren sie falsch informiert.
»Zum Glück ist der Krieg vorbei«, sagte Ling. »Und jetzt bekommen wir die beste Regierung der Welt. Es gibt Nahrung für alle, und die Kinder gehen zur Schule. Noch eine Generation, und das Volk wird anders sein. Ein ganz neues Volk! Ist es nicht großartig, dass wir, nachdem wir während so vieler Jahre Hilfe und Geld vom Ausland annehmen mussten, endlich die Verantwortung für uns selbst tragen? Gewiss, unsere Schulungen in Selbstkritik werden belächelt. Aber sie sind notwendig für unser gemeinsames Wohl. Auch die Tibeter werden bald lernen, die alte Ordnung zu verwerfen.«
Longsela und Paldor hörten sich das alles an und dachten sich ihren Teil. Auf tibetischer Seite sah die Lage
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