Das Haus der Tibeterin
ganz anders
aus. Das gesamte Land gehörte der tibetischen Regierung. Adlige Familien und Klöster pachteten die Güter und zahlten ihre Steuern direkt an den Staat. Gewiss brachte das Feudalsystem mit sich, dass es Leibeigene gab, aber diese erhielten Lohn und wurden gut ernährt. Die Bauern erarbeiteten sich ihr Einkommen auf den Gütern ihrer Herren. Es lag an ihnen selbst, so viel zu erwirtschaften, dass ihnen nach Abzug der Abgaben noch einiges für sich selbst übrig blieb. Die Bauern besaßen Yakkühe, Hühner, Schweine, Schafe und Maultiere, die mehr galten als Pferde. Maultiere trugen willig Lasten und hatten einen sicheren Gang in den Bergen. Wollten Bauernkinder Mönche oder Nonnen werden, erhielten sie ohne Weiteres eine schriftliche Zustimmung ihres Herrn. Hatte der Sohn eines Leibeigenen das Zeug dazu, konnte er Regierungsbeamter selbst der höchsten Ränge werden. Und heiratete der Sohn oder die Tochter in eine adelige Familie, erlangte er oder sie die Freiheit und wurde geadelt. Ferner wurden alle tüchtigen Handwerker vom Volk und der Regierung außerordentlich geachtet; die Vorstände der verschiedenen Gilden tagten mit den adeligen Beamten und übten einen enormen Einfluss auf ihre jeweilige Zunft aus. Natürlich gab es Mönche, die sich stur gegen den Fortschritt auflehnten, und natürlich gab es wirklich arme Leute, aber manche waren es nur dadurch, weil sie tranken oder sich in Schulden stürzten. Außerdem war die Bevölkerung Tibets dünn gesät, sodass die sogenannten »hungernden Massen« einfach nicht existierten. Aber Longsela und Paldor, die die Freunde nicht kränken wollten, behielten ihre Ansichten für sich.
Sie waren erschüttert darüber, dass die Wongs so dürftig untergebracht waren, wo doch die chinesischen Befehlshaber in komfortablen Wohnungen lebten und bestens verpflegt wurden. Longsela besaß ein kleines Sommerhaus beim »Norbulinka« - dem Edelsteingarten, der Sommerresidenz Seiner Heiligkeit. Sie ließ das Haus instand setzen und stellte es ihren
Freunden zur Verfügung. Beide waren ihr sehr dankbar. Die Wongs hatten so viele Jahre im warmen Seeklima verbracht, dass sie das raue Wetter in Lhasa nicht vertrugen. An Yao hatte sich nur mühsam von einer Bronchitis erholt, und Ling quälten ständige Ohrenschmerzen. Sie litt mehr als ihr Mann, der auf Baustellen arbeitete und von seinen Auftraggebern gut und ausreichend bewirtet wurde. Die hohen Regierungsbeamten lebten sehr komfortabel und hatten ihre eigenen Köche aus China dabei. Longsela wunderte sich, doch Ling hielt es nicht für wert, dass man darüber diskutierte.
»Diese Männer müssen täglich schwerwiegende Entscheidungen fällen. Sie tragen größere Verantwortung als wir. Und bringt diese Verantwortung Privilegien mit sich, sollten wir uns nicht darüber entrüsten.«
Weil Lings Aufgabe darin bestand, den Tibetern Chinesisch beizubringen, half ihr Longsela, die richtigen Lehrbücher zusammenzustellen. Sie gab sich viel Mühe, auch Mönch-Gelehrte zu überzeugen, Chinesisch zu lernen, hatte jedoch nur geringen Erfolg dabei. Schließlich kamen ein paar Mönche, die sich sagten, dass es wohl besser sei, etwas Chinesisch zu verstehen. Die Chinesen waren sehr neugierig, sie besuchten die Klöster und wollten alles erklärt haben. Inzwischen baute An Yao feste Betonhäuser für die Soldaten, damit sie im Winter nicht mehr auf der Erde schlafen mussten. Häuser für die Tibeter waren für später geplant, stets hatte das Militär den Vorrang. Longsela dachte, dass Ling sich widersprach. Sie befürwortete rückhaltlos, dass der Vorsitzende Mao jede bevorzugte Behandlung ablehnte, auf der anderen Seite fand sie sich mit den krassesten Unterschieden ab. Ohne Zweifel gehörten die Offiziere zu den Bevorzugten der Gesellschaft. Ihre tadellose Kleidung, die Gepflegtheit ihrer Erscheinung und ihre guten Manieren fielen auf. Aber Longsela mochte Ling viel zu sehr, um mit ihr darüber zu debattieren, und begnügte sich damit, ihr das Leben ein wenig zu erleichtern. Sie ließ Möbel
und Teppiche in den Pavillon bringen und sorgte dafür, dass die Wongs einen kleinen Eisenofen bekamen. Kürzlich war das Häuschen sogar an das Elektrizitätsnetz angeschlossen worden, sodass Ling nach dem Abendessen ihr Lehrmaterial für den nächsten Tag in gemütlicher Umgebung vorbereiten konnte. Sie hatte auch häufig chinesische Soldatinnen zu Gast, die sie »Mutter Ling« nannten. Manche waren kaum sechzehn Jahre alt, waren aus Idealismus
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