Das Haus der Tibeterin
Chinesen versuchten vor allem die tibetischen Frauen für ihre Sache zu gewinnen. Der Große Steuermann habe erklärt, die Frauen seien die Hälfte des Himmels, und alle in Tibet seien jetzt gleichberechtigt und frei. Von den großen Worten fühlten sich die Tibeterinnen wenig angesprochen. Sie führten seit jeher ein freies Leben und waren auch berufstätig - wenn man einmal davon absah, dass bisher noch keine Frau ein Regierungsamt bekleidete. Der Grund hierfür war, dass die Regierung aus Laienbeamten und Mönchen bestand und die Sitzungen ja oft im Potala, einem Klostergebäude, stattfanden. Davon abgesehen, konnte ohne Frauen nichts getan werden. In Tibet kannte man weder verstümmelte Füße noch Zwangsehen im Kindesalter. Hier wurde nicht die Geburt eines Mädchens beklagt, während die eines Sohnes gefeiert wurde. Dass man weibliche Säuglinge nach der Geburt tötete, war in Tibet unvorstellbar. Gewiss, Prostituierte und Zuhälter existierten wie anderswo
auch, waren aber keine gesellschaftlichen Randexistenzen. Häufig spendeten die Mädchen sogar einen Teil des Geldes, das sie ihren Freiern abgenommen hatten, den Klöstern.
1954 - im Holz-Pferd-Jahr - lud die kommunistische Regierung den Dalai-Lama nach China ein. Es wurde eine sehr lange Reise, die Seine Heiligkeit mit einem großen Gefolge antrat. Mit ihm reisten auch seine Mutter und seine älteste Schwester, Ngapo Tseten Dolkar. Sie blieben ein Jahr lang Tibet fern und bereisten ganz China. Seine Heiligkeit lernte und erlebte viel in dieser Zeit, doch allen Bewohnern Lhasas fiel ein Stein vom Herzen, als er nach diesem Jahr wohlbehalten aus China zurückkehrte.
Inzwischen war Tibet zum autonomen Gebiet erklärt worden. Auch Longsela und Paldor waren sich darüber im Klaren, dass Reformen nötig waren. Man musste einheimische Kräfte ausbilden, das Schul- und Gesundheitswesen neu aufbauen. Die Chinesen schienen zu wissen, wie das zu bewerkstelligen war, obwohl die Mehrheit der Tibeter die von den Chinesen propagierten Landreformen ablehnte. Auch besuchte Lhamo seit einem halben Jahr die Nationale Schule für Minderheiten in Peking. Eine erste Gruppe von Beamtenkindern war bereits 1952 nach Peking gereist, und mittlerweile studierten über fünfhundert Tibeter in China.
Mit ihren vierzehn Jahren war Lhamo sehr reif, zeigte Besonnenheit im Reden und Verhalten. Die Eltern befürworteten, sie in China lernen zu lassen, zumal Ling zu wissen glaubte, dass das Internat einen guten Ruf hatte. Kelsang beneidete die Schwester sehr und wollte auch nach Peking. Aber die Eltern fanden ihn noch zu jung. Er besuchte eine chinesische Schule in Lhasa und war dort Klassenbester. Was Sonam betraf - sie lernte nach wie vor ungern, gab sich jedoch Mühe. Den Gedanken, Tierärztin zu werden, trug sie seit Jahren mit sich und wich nicht von ihrem Vorsatz ab.
Ling und Longsela sprachen oft über die Kinder. Ling, die
gut beobachtete, hatte die Geschwister in ihr Herz geschlossen. Und oft wunderte sich Longsela über ihre sanfte Klarsicht.
»Sonam?«, sagte Ling eines Tages. »Ach, Sonam wird sich schon im Leben zurechtfinden. Sie weiß, was sie will. Sie ist eine sture Träumerin, wie ich.«
»Wie du? Ach, das höre ich zum ersten Mal!«, neckte Longsela sie. Ling zeigte ein Lächeln, das selten zum Vorschein kam. Ihre Augen waren gerötet vom Staub. Seit Kurzem trug sie eine Brille, die schlecht angepasst war. Kälte und starkes Sonnenlicht machten ihr sehr zu schaffen. Die Lebensumstände ließen sie leiden, ihr Rücken war etwas krumm geworden. Sie fror immer; daher strickte sie sehr viel, Pullover und Schals für ihren Mann und für sich. Und manchmal sogar - weil es ihr Freude machte - für die Kinder. Sie kaufte billig ein, heute schlechtes Gemüse, das sie schmackhaft zubereitete, morgen unreife Aprikosen, aus denen sie Gelee machte. Ihre Strickarbeit trug sie immer in einer großen Tasche bei sich.
»Aber weißt du«, sagte Ling, »ich mache mir Gedanken über Kelsang.«
Longsela sah sie überrascht an. Kelsang gewann sofort alle Sympathien durch sein nettes Aussehen, seine guten Manieren, seine Freundlichkeit.
»Aber warum denn bloß?«, fragte sie. »Er lernt doch gut.« Ling seufzte, die Augen hinter der Brille auf ihre klappernden Nadeln gerichtet.
»Es geht nicht darum. Um ganz offen zu sein: Ich kenne keinen Jungen, der klüger ist. Aber er kennt sich selbst nicht genug, und das ist es eben. Er kennt seine Bücher besser als die Menschen.«
Longsela
Weitere Kostenlose Bücher