Das Haus der Tibeterin
zum Militär gegangen und hatten ihre Eltern seit drei oder vier Jahren nicht gesehen. Unter ihrer harten Schale waren sie weich und verletzlich. Sie verteilten Gerstenbrei und Suppe an die Bevölkerung und waren im Allgemeinen beliebt. Inzwischen gab es auch drei Krankenhäuser in Lhasa; eines war für die Tibeter bestimmt, die beiden anderen für die Chinesen. Die Behandlung im tibetischen Krankenhaus war kostenlos. Allerdings war das Pflegepersonal jung und behandelte die Leute nicht immer erfolgreich. In den chinesischen Krankenhäusern arbeiteten erfahrene Ärzte und Krankenschwestern. Medikamente und Impfstoffe kamen aus China. Es gab auch einen Operationssaal. Wohlhabende Tibeter ließen sich dort gegen Bezahlung behandeln.
Die chinesischen Soldaten benahmen sich im Allgemeinen gut, obwohl sie zu Tieren grausam waren. Die Tibeter erschraken beim Anblick eines Tieres, das lebendig zerstückelt oder gehäutet wurde. Der Buddhismus lehrte, dass diejenigen, die ein Lebewesen verletzten und kein Mitleid mit der lebendigen Kreatur hatten, von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen wurden. Die Soldaten lachten, wenn die Kinder oder die Mönche beim Anblick der gequälten Tiere weinten. Sie selbst wurden bei jedem Vergehen hart bestraft, ausgepeitscht oder geschlagen, bis sie halbtot in ihrem Blut lagen. Longsela war entsetzt über das, was sie manchmal sah, aber Ling sagte, beim Zusammenleben so vieler Menschen müsse Disziplin herrschen.
»Manche Soldaten sind sehr unwissend und grob, du kannst es dir nicht vorstellen! Gewalt ist die einzige Sprache, die sie
verstehen. Aber auch das wird sich bald ändern; es ist nur eine Frage der Zeit.«
Ling und An Yao sahen eine Zukunft vor sich, die in rosaroten und sonnengelben Farben erstrahlte, ähnlich den kitschigen Bildern, die die Chinesen in Umlauf brachten, auf denen Mao, der »Große Steuermann«, und seine Frau Jiang Qing, die Schauspielerin »Blauer Apfel«, gezeigt wurden, von lachenden Kindern umgeben, die ihnen Blumen überreichten und kleine roten Fahnen schwenkten. Longsela und Paldor fanden die Gesinnung der Freunde etwas naiv, aber ihre Begeisterung war ansteckend. Es gab viele gemeinsame Begegnungen und Feste. Manche Chinesen - vor allem Freiwillige wie die Wongs - waren außerordentlich liebenswert. Jeder spürte ihren guten Willen, ihre Menschlichkeit und ihren Humor. Daneben erzählte Ling beiläufig, dass sie und ihr Mann oft von ihren Landsleuten belächelt wurden, weil sie Messer und Gabel statt Stäbchen benutzten, ein Tischtuch auflegten und ihre Essensabfälle nicht, wie in China üblich, unter den Tisch warfen.
»Man wirft uns imperialistische Gewohnheiten vor«, bekannte An Yao mit einem Lächeln, das müde und etwas verbittert wirkte. »Ich muss dann erklären, dass wir ja in Macao lebten. Es dauert eine ganze Weile, bis die Leute endlich verstehen, dass wir eigentlich ebenfalls Opfer sind, weil uns die Kolonie diskriminierte. Trotzdem sind wir echte Chinesen, das müssen wir immer wieder mit Nachdruck betonen.«
An Yao trug eine dicke Hornbrille. Sein Gesicht hatte ein Mienenspiel, das zu wechselhaft und lebhaft für einen Chinesen war. Seine Sprachweise war schnell, er lispelte ein wenig, wie das Portugiesen oft tun. Alles in allem musste er auf seine Landsleute einen fremdartigen Eindruck machen.
Allmählich bemerkte Longsela, die wache Augen und ein gutes Gehör hatte, dass Chinesen, die viel Gutes taten, oft schnell wieder versetzt wurden. Alle sahen recht unglücklich
aus, wenn sie den Auftrag bekamen, Lhasa zu verlassen. Dass sie gehen mussten, betrübte sie, denn sie ließen ihre Arbeit unvollendet zurück.
»Es gibt andere Orte, an denen sie gebraucht werden«, sagte Ling dazu.«Überall fehlen Spezialisten; es ist eine Frage der Organisation.«
Als Lehrerin erhielt sie pro Monat fünf chinesische Dollars. An Yao verdiente das Doppelte, aber ihr beider Lohn genügte kaum zum Leben. »Wir sind eine geopferte Generation, aber es geht nicht anders«, war alles, was Ling dazu sagte. Longsela fand, dass sie eine dicke Haut hatte.
Die Chinesen veranstalteten Umzüge und Paraden mit Spruchbändern, bei Sonnenschein oder bei Fackelbeleuchtung. Alle sollten dabei sein: die Soldaten, die Jungkommunisten, der Frauenverein, die Handwerker, die Ingenieure, die Fabrikarbeiter, die Bauern, alle mit roten Fahnen, und sie sollten die Reden, die zündende Musik und die durch Lautsprecher übertragenen, mitreißenden Parolen hören. Die
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