Das Haus der Tibeterin
einmal in den Sinn gekommen, selbst auf den Flug zu verzichten. Und hätte er es getan, hätte Longsela ihn dafür verachten müssen.
Der Flugleiter atmete auf und bewegte das Bündel Papiere vor seinem klammen Gesicht, als wollte er sich Luft zufächeln.
»Er kam in letzter Minute«, stammelte er. »Ich war nicht unterrichtet.«
Kiran Seth riss ihm die Begleitscheine fast aus der Hand.
»Ich auch nicht. Und er hat mir eine Verspätung eingebracht.«
Longselas Reisetasche wurde wieder ausgeladen. Dafür brachte man das recht umfangreiche Gepäck der Chinesen in die Maschine. Dreist, wie sie waren, hatten sie es nicht einmal wiegen lassen. Kiran Seth machte aus seiner Wut keinen Hehl, verwünschte die Chinesen und ihre Arroganz, die zu ihrer pseudo-klassenlosen Gesellschaft im krassen Widerspruch stand. Der Flugleiter krümmte den Rücken, ließ das Gewitter vorbeiziehen. Endlich kam der Augenblick des Abflugs. Paldor und Longsela verneigten sich voreinander, mit gefalteten Händen, denn Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit widersprachen der Sitte. Longsela legte Paldor eine Glücksschärpe um den Hals. Yeshe und Telsen kamen auch, verabschiedeten sich. Auch sie brachten Glücksschärpen. Yeshe hatte Tränen in den Augen. Telsen war ohne Nachricht von seinen Eltern
und verzehrte sich vor Sorgen. Paldor hatte versprochen, sich nach ihnen zu erkundigen. Er drückte beiden die Hand, bevor Longsela noch ein paar Schritte mit ihm ging, dem Flugzeug entgegen.
»Bis morgen also«, sagte Paldor. »Sei ganz ruhig, Longsela. Alles wird gut.«
Sie sahen sich an, gefangen in gemeinsamer Unruhe, im gemeinsamen Schmerz. Longsela fühlte sich so schwach und übel, dass sie nicht einmal mehr sprechen konnte. Sie nickte nur, ihre Lippen deuteten ein Lächeln an. Sie wollte, dass die Trennung die Keime des Wiedersehens in sich barg, dass in diesem Augenblick die Hoffnung gesät wurde. Sie wollte daran glauben, mit aller Kraft, die sie noch hatte. Langsam, ganz langsam, entfernte sich Paldor von ihr. Er schritt dabei rückwärts, wandte seinen Blick nicht einen Moment von ihr ab. Es war, als ob er Longselas Bild in seiner Netzhaut bewahren wollte, um sie dahin zu bringen, wo er sie wiedersehen würde, in einer Wirklichkeit am Rande der Träume. Dann drehte er sich ganz plötzlich um, lief der wartenden Maschine entgegen, als ob jeder Schritt, der ihn jetzt von Longsela trennte, ihn schneller zu ihr zurückbrachte. Er war der letzte Passagier, der die Treppenleiter emporstieg und in der Tür des Flugzeugs verschwand, die sich hinter ihm schloss.
Und dann wurde die Treppenleiter fortgeschoben. Pilot und Copilot hatten in der Kanzel Platz genommen. Der Motor sprang an, die Propeller schlugen die Luft. Die Maschine begann auf der Piste zu rollen, zuerst langsam und schwerfällig, dann immer schneller. Es hatte fast den Anschein, als stiege das Flugzeug in kleinen Sprüngen auf, einen Wirbel von gelbem Staub hinter sich lassend. Dann gewann das Flugzeug an Fahrt, schwang sich in geringe Höhe, stieg plötzlich mit der Nase empor. Die Maschine wandte sich leicht gegen Norden, ihre Umrisse, wie die eines Albatros, hoben sich von dem goldglänzenden Strahlenbündel der Morgensonne ab. Parallel
zur felsigen, baumbewachsenen Hügelkette flog sie davon, den Wolken entgegen, die von jenseits der fernen Berge aufstiegen. Und dort, weit hinter den Gipfeln, lag Tibet.
Den ganzen Tag lebte Longsela wie in der Schwebe, erfüllt von bösen Ahnungen und undeutlichen Ängsten. Sie war entweder von übertriebener Aktivität erfüllt oder von erschöpfter Stumpfsinnigkeit. Immer wieder überraschte sie sich dabei, wie ihre Finger über die Dzi-Steine glitten - eine nervöse, kindliche Beschwörungsgeste -, während ihre trockenen Lippen den Zauberspruch vor sich hin murmelten.
»Steine, erfüllt meinen Wunsch!
Macht, dass alle, die ich liebe, morgen bei mir sind!«
Sie fühlte sich schlapp, die Schmerzen in ihrem Rückgrat nahmen zu, sie konnte kaum noch den Kopf bewegen. Deva, die sie in ihr schlichtes Herz geschlossen hatte, massierte ihr Nacken und Schultern. Ihre liebevollen, starken Hände lösten den Muskelkrampf. Longsela entspannte sich, die Schmerzen klangen etwas ab. Stündlich hörte sie die Nachrichten. All India Radio berichtete von Kämpfen in Tibet, aber dies waren in jenen Tagen die üblichen Meldungen. Der Abend kam. Longsela saß allein zu Tisch. Ravi, der gut kochte und sich darüber im Klaren war, dass die »Mem Sahib«
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